Lea Martin: Als du vor 36 Jahren nach Deutschland kamst, warst du so alt wie Mahsa Amini. Wie war deine Situation damals?
Noshin Shahrokhi: Bevor ich nach Deutschland kam, habe ich viele Freundinnen und Freunde verloren. Entweder landeten sie im Gefängnis, oder sie wurden hingerichtet. Auch meine Schwester war acht Jahre im Gefängnis. Weil ich sehr jung war, durfte ich sie nur einmal im Jahr besuchen. Immer wieder gab es heftige Aufstände im Iran, die unterdrückt wurden, mit vielen Verwundeten und Getöteten. Im Westen wurde darüber aufgrund der engen wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran nicht viel berichtet. Erst nach dem Mykonos-Prozess im Jahr 1997, als ein unabhängiges Gericht das iranische Regime verurteilt hat, hat sich das für einige Zeit geändert.
Lea Martin: Wie siehst du die heutige Situation im Iran?
Noshin Shahrokhi: Dieses Mal ist es sehr ernst. Jetzt sind die Frauen, die Jahrzehnte unterdrückt wurden, auf den Straßen und wollen ihre Rechte. Die Männer stehen erstmals hinter den Frauen. Die Parolen sind nicht religiös und unabhängig von den Namen, die im Ausland eine Rolle spielen. Es ist eine unabhängige Bewegung, die wichtig ist für den gesamten Nahen Osten.
Lea Martin: Bist du, seit du den Iran verlassen hast, nochmals dort gewesen?
Noshin Shahrokhi: Wenn man aktiv ist, kann man nicht zurück. Ich könnte vielleicht einen iranischen Pass beantragen, aber es ist gefährlich für mich, weil ich immer geschrieben habe und meine Bücher die grausamen Geschehnisse, die wir im Iran erleben oder erleben mussten, schildern. Ich habe zwei Herzen. Ich lebe seit 36 Jahren in Deutschland. Ich habe hier studiert und arbeite hier, ich habe auf Deutsch Bücher geschrieben, aber ich bin dort aufgewachsen. Die persische Sprache, diese Sprache der Dichter, fließt in meinen Adern. Das heißt, ich bin hier und auch da, ich verfolge die Nachrichten aus dem Iran, und wenn die Menschen unterdrückt oder getötet werden, ist das so nah bei mir, dass meine Stimme zittert, wenn ich darüber spreche.
Lea Martin: In deinem Roman gibt es viele Zitate aus der alten persischen Dichtung. Dennoch hast du ihn auf Deutsch geschrieben, nicht auf Persisch.
Noshin Shahrokhi: Ich kenne zwei Kulturen, zwei Sprachen, und ich habe mich verpflichtet, diesen Roman zu schreiben. Vor wenigen Monaten gab es einen Anschlag auf den Schriftsteller Salman Rushdie, den ich sehr verehre. Es ist mir wichtig, dass die Deutschen die kulturellen Hintergründe verstehen, warum bestimmte Menschen, ohne sein Buch gelesen zu haben, denken, dass sie verpflichtet sind, ihn zu vernichten.
Wenn man versteht, findet man einen Weg. Aber wenn einem die Kultur und diese Taten fremd sind, kann man auch keine Lösung finden. Ich finde, viele Wege zur Integration in Deutschland sind nicht richtig. Viele Mädchen werden in den muslimischen Familien allein gelassen. Das Kindeswohl, über das man so viel spricht, gilt nicht für diese Mädchen, weil Religion als Privatsache angesehen wird. Wenn diese Religion aber so fundamentalistisch ausgeübt wird, dass Kinder darunter leiden, muss ihnen geholfen werden, und es ist keine Toleranz, sondern Ignoranz, zu sagen, das sei Sache der Familie.
Lea Martin: Die Gewalt, die Kinder in muslimischen Familien erleiden, wird in deinem Roman eindrücklich beschrieben.
Noshin Shahrokhi: Ich bin in einer muslimischen Familie aufgewachsen, in einer muslimischen Gesellschaft. Weil ich diese Kultur kenne, weiß ich, wie es ist, wenn die Familie sehr religiös ist und bei jedem Schritt an diese Religion und ihre Regeln denkt. Man fühlt sich eingesperrt, besonders als Mädchen. Mein Onkel war ein Imam, mein Großvater auch. Es ist kein autobiografisches Buch, aber wenn es um Religiosität geht, habe ich vieles selbst erlebt.
Ich habe das Buch geschrieben, nachdem ich als Lehrkraft gearbeitet hatte. Bei einem Kurs kamen fast alle Teilnehmer aus Syrien, und vor diesem Kurs hatte ich immer Bauchschmerzen, weil ich nicht hinwollte. Die Menschen hatten keinen Respekt gegenüber Frauen. Als Dozentin habe ich keinen Respekt erlebt. Manche haben sogar gesagt, dass sie iranische Frauen hassen. Freitags sind sie nicht zum Kurs gekommen, weil ihnen das Freitagsgebet wichtiger war, obwohl sie für ihr Fehlen sanktioniert wurden. Sie waren sehr religiös und haben in einer Parallelwelt gelebt. Sie haben die Deutschen verachtet, auch die deutsche Kultur. Dieser Kurs war für mich der Anfang des Buches. Ich habe mich verpflichtet gefühlt, über diese Menschen zu schreiben, die hier leben, aber eigentlich nicht hier leben, sondern in einer Fantasiewelt.
Lea Martin: Dein Roman erzählt aus vier Perspektiven, darunter ist die von Yasin, der zum Täter wird. Lesend muss man ein Stück weit mit ihm mitgehen. Es kommt sehr viel Wut auf Frauen und auf alles, was weiblich ist, zum Ausdruck, und durch deine Erzählweise wird man als Leserin gezwungen, sich mit den Gedanken und den Gefühlen auch der Täter auseinanderzusetzen.
Noshin Shahrokhi: Mein Onkel war wie gesagt ein Imam. Als Kind wollte ich einmal im Garten eine Kakerlake töten, und er fragte mich: „Wieso machst du das? Sie hat ein Leben wie du. Lass sie frei.“ Diesen Satz habe ich nie vergessen. Aber als meine Schwester im Gefängnis war, hat er zu meiner Mutter gesagt: „Ich werde mich darum kümmern, aber sie soll sich entschuldigen und versprechen, dass sie nie wieder etwas als Aktivistin gegen das Regime machen wird.“ Meine Schwester hat Nein gesagt, und sie ist im Gefängnis geblieben. Trotzdem konnte ich meinen Onkel nie hassen. Wenn man in einer solchen Familie aufgewachsen ist, kennt man auch die andere Seite gut. Auch meine Mutter, die ich über alles geliebt habe, war sehr religiös. Vielleicht konnte ich wegen der Liebe zu meiner Mutter so schreiben, dass man auch mit Yasin Empathie hat, bevor aus ihm ein Monster wird.
Lea Martin: Die facettenreiche Darstellung empfinde ich als Stärke deines Buches. Du hast bereits als junges Mädchen viel gelesen?
Noshin Shahrokhi: Ich habe schon als Kind mein Taschengeld gespart und Bücher gekauft. Als ich 14 war, geschah die Revolution. Das Schah-Regime hat erst die Universitäten, dann die die Schulen geschlossen, damit die Kinder nicht auf die Straße gehen. In dieser Zeit wurden viele Bücher veröffentlicht, denn auch im Schah-Regime durften wir Bücher von großen Schriftstellern wie Marquez nicht lesen. In der Zeit war ich die ganze Zeit zuhause und habe gelesen, vor allem Romane. Jede Woche sind wir zur Uni gefahren und haben Bücher gekauft. Sie waren ganz weiß, nur der Titel war darauf gedruckt, ohne richtiges Cover. Sie wurden sehr schnell gedruckt und verkauft. Für eine Woche hatte ich dann sieben Bücher und habe sie wie eine Hungrige verschlungen, 20 Stunden am Tag. Mit 16 wurde ich dann aus der Schule geworfen, weil ich mich geweigert habe zu beten. Wir waren in einer Mädchenschule und mussten uns mittags versammeln, um zu beten. Wir waren zehn Mädchen, die nie gebetet haben, und ich hatte Glück, dass ich als Jüngste nicht verhaftet wurde. Die anderen, die schon 18 waren, wurden alle verhaftet.
Dann begann eine Zeit, in der wir keines dieser Bücher behalten konnten. Das war verboten. Wir haben unsere eigenen Bücher verbrannt.
Lea Martin: Ihr habt sie selbst verbrannt?
Noshin Shahrokhi: Wenn die Revolutionsgarden ins Haus gekommen wären und die Bücher gefunden hätten, hätten wir hingerichtet werden können. Es war sehr gefährlich, verbotene Bücher zu haben. Deswegen haben wir sie verbrannt.
Lea Martin: Vermisst du den Iran?
Noshin Shahrokhi: Ja, sehr. Vor dem Tod meiner Mutter wollte ich unbedingt hin, damit ich sie endlich sehen konnte. Ich hatte meine Eltern das letzte Mal vor 25 Jahren gesehen. Erst ist mein Vater gestorben, vor zwei Jahren auch meine Mutter. Ohne Abschied. Viele meiner Freunde und Freundinnen haben die gleiche Situation.
Lea Martin: Du hast mit 14 Jahren erlebt, wie die Revolution den Iran komplett verändert hat. Was ist heute im Iran anders?
Noshin Shahrokhi: Es ist eine neue Generation. Diese Generation fühlt sich nicht als Opfer, sondern sie wollen etwas verändern, sie wollen besonders als Frau nicht als Mensch zweiter Klasse angesehen werden. Es ist eine andere Bewegung als alle, die wir hatten. In allen Städten gibt es Demos, und auch wenn Revolutionsgarden angreifen, sie fliehen nicht, sie bleiben da, sie greifen an. Bis heute sind 50 junge Menschen erschossen wurden, unzählige sind verletzt, trotzdem protestieren die jungen Menschen, die Frauen gehen voran. Das Kopftuch ist nur ein Symbol. Ein Symbol der Unterdrückung. Was sie erleben müssen, ist nicht nur das Kopftuch. Selbst im Ausland erleben wir die Ungerechtigkeit, dass wir als Frau nur halb so viel wie unsere Brüder erben. Bei einer Scheidung gehören die Kinder dem Vater, die Mutter hat keine Rechte. Es ist nicht nur das Kopftuch, sondern tief in uns, was wir erlebt haben, unter diesem Regime.
Lea Martin: Was wünschst du dir von der Berichterstattung in den Medien?
Noshin Shahrokhi: Ich wünsche mir Unterstützung, indem man über die Aufstände im Iran berichtet, aber keine direkte Hilfe. Wenn sich die westlichen Regierungen einmischen, wird alles schlimmer. Aber wir Menschen können zeigen: „Wenn das Internet im Iran gesperrt ist, kann ich deine Stimme sein. Wir sind bei dir.“ Medien spielen auch eine große Rolle. Aber von den Regierungen wünsche ich mir keine „Hilfe“ in Anführungszeichen, weil ich eigentlich auch keine Hilfe erwarte. Ich hoffe, dass die Bewegung im Iran eine eigene Führung bekommt. Ich bin nicht optimistisch, aber ich wünsche es mir.
Lea Martin: Ich möchte noch mal auf die Gewalt zurückkommen, die in deinem Roman dargestellt wird. Dort heißt es beispielsweise aus der Sicht von Raihana, die von ihrem Vater verkauft und vom neuen Besitzer vergewaltigt wurde: „Er sprach Verse aus dem Koran und vergewaltigte mich.“ Ich möchte dich nach dem Realitätsgehalt fragen. Gibt es das wirklich?
Noshin Shahrokhi: Im Gefängnis, wenn man ausgepeitscht wurde, haben die Auspeitscher Koranverse gesungen. Wenn ich in Deutschland Koranverse höre, kommen Erinnerungen hoch. Ich kann keine Koranverse ertragen, obwohl ich darüber geschrieben habe. Als ich sehr klein war und noch nicht zur Schule ging, hatten wir Nachbarn, die eine Dienerin hatten, auch sie war ein Kind. Raihana ist ein Spiegel dieses Mädchen. Sie wurde von dem Vater der Familie vergewaltigt. Ich habe viele Interviews geführt, mit Teilnehmern meiner Kurse, da gab es auch diese Fälle, dass Mädchen als Dienerin im Haus arbeiten mussten, damit sie Brot bekommen.
Lea Martin: Die Frage ist mir wichtig, um deutlich zu machen, dass das Ausmaß an Gewalt, das du darstellst, nicht frei erfunden ist. Es gibt eine soziale Realität dazu.
Noshin Shahrokhi: Die soziale Realität ist sehr viel schlimmer. Ich wollte eigentlich auch über Libyen schreiben. Nachdem ich Artikel darüber gelesen habe, wie es den Geflüchteten in Libyen geht, konnte ich zwei Wochen nicht schlafen und habe darauf verzichtet. In der Liebesgeschichte von Leila und Madschun sagt die Heldin: „Ich bin eine Frau, man hat meine Flügel gebrochen, ich kann nicht mehr fliegen.“ Ich kenne diese Gedanken. Die letzte Zeit, in der ich im Iran gelebt habe, war sehr schlimm. Jeden Tag habe ich einen Freund oder eine Freundin verloren, die oder der hingerichtet wurde. Man bekommt Depressionen, wenn man sich die ganze Zeit in einer Schlucht befindet und alle verliert, die man kennt. Ich musste die Namen meiner Freundinnen vergessen, damit ich sie, wenn ich verhaftet werde, nicht verraten kann. Ich erinnere mich immer noch nicht an die Familiennamen meiner Freundinnen, damit ich sie bei Facebook finden kann.
Lea Martin: Ich habe noch eine letzte Frage. Fühlst du dich zuhause in Deutschland?
Noshin Shahrokhi: Ich bin sehr froh, dass ich hier bin. Ich kenne zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei Kontinente. Die Flucht war sehr schmerzhaft für mich, aber insgesamt fühle ich mich gut hier. Aber zuhause …? Mit den schwarzen Haaren und meinem Akzent werde ich nie als deutsche Bürgerin angenommen werden. Rassismus ist überall, auch bei uns Iranern. Wenn man die Fremde nicht kennt, hat man Ängste, das ist normal. Ich weiß nicht, ob man überhaupt sagen kann, dass man zuhause ist. Im Iran, als ich weg musste, habe ich mich fremder gefühlt als hier.
Lea Martin: Vielen Dank für das Gespräch.