Bisher ist die Situation für Berliner Schüler eher komfortabel: Der Religionsunterricht ist vollständig freiwillig. Die Schüler müssen sich um teilzunehmen extra anmelden (bzw. von ihren Eltern angemeldet werden) und sie bekommen keine Zensuren. (In anderen Bundesländern sind sie automatisch angemeldet und müssen sich – oft mit Hindernissen – aktiv abmelden.) Die Situation in Berlin ist durch die Bremer Klausel2 begründet. Mit dieser Ausnahmeregelung vom Artikel 7 GG ist Berlin von der Pflicht befreit, Religionsunterricht anzubieten, weil vor 1949 eine andere landesrechtlich Regelung bestand (§ 13 Berliner Schulgesetz vom 26. Juni 1948 ). Mit dem Berliner Schulgesetz und in Verträgen mit Kirchen und Religionsgemeinschaften wurde festgelegt, dass er dennoch stattfinden muss. Rund 29% der Berliner Schüler nehmen am Religionsunterricht teil, etwa 21 % am humanistischen Lebenskundeunterricht und 50% an keinem von beiden.3
Wenn Religion nun Wahlpflichtfach wird, bedeutet dies, dass auch alle, die bisher keines der freiwilligen Angebote besucht haben, sich für eines der Fächer auch diesem Bereich entscheiden müssen, und dass das Fach benotet wird. Noch ist nicht öffentlich bekannt, mit welchen Fächern Religion konkurrieren soll. Der Landesverband Berlin-Brandenburg des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) argwöhnt, dass die Autoren des Koalitionsvertrages ein Pro-Reli 2.0 anstreben. So ist im Wahlprogramm der CDU zu lesen: „Wahlpflichtfach Ethik/Religion und staatlichen Islamunterricht einführen“.4
Berlin war das letzte Bundesland, das die Bremer Klausel noch ernst nahm, um nicht diesen in einer modernen Gesellschaft indiskutablen Anti-Aufklärungsunterricht anzubieten. Doch der Aufschrei der säkularen Szene war bisher eher leise. Der IBKA-Landesverband Berlin-Brandenburg wies im April in einer Pressemitteilung5 unter der Überschrift „Atheisten gegen Religionsunterricht als Wahlpflichtfach an Berliner Schulen“ darauf hin, dass die Pläne der Koalition die Bremer Klausel unterwandern:
„Durch die Bremer Klausel im Grundgesetz ist der Religionsunterricht unter anderem in Berlin kein ordentliches Lehrfach. Dies will die schwarz-rote Koalition nun in ihrem Koalitionsvertrag unterlaufen“, sagt Silvia Kortmann, Landessprecherin Berlin-Brandenburg des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA). Ordentliche Lehrfächer seien die Schulfächer, deren Erteilung vollständig aus Steuergeldern finanziert werde; gleiches gelte für die Ausbildung der Lehrkräfte.
Kortmann weiter: „Im Jahr 2009 haben sich die Berliner Bürgerinnen und Bürger per Volksentscheid mehrheitlich gegen den Religionsunterricht als Wahlpflichtfach ausgesprochen. Dieses eindeutige Abstimmungsergebnis wird durch den zur Abstimmung stehenden Koalitionsvertrag mit Füßen getreten.“
Die Reaktion der Lehrergewerkschaft erschöpfte sich in einer dürren Mitteilung auf ihrer Webseite: „Die Einführung eines neuen Wahlpflichtfachs „Weltanschauungen/Religionen“ sehen wir kritisch. Das Fach Ethik muss erhalten bleiben und eine Ausweitung der Stundentafel lehnen wir angesichts des Lehrkräftemangels ab.“ Das ist erbärmlich wenig.
Der IBKA-Landesverband Berlin-Brandenburg zeigt sich bestürzt, dass Religion im weitgehend atheistischen Berlin wieder einen hohen Stellenwert erhalten soll. Es dürfe nicht sein, dass das Fach nur am Lehrermangel scheitert. Religionsunterricht gehöre im Interesse einer Trennung von Staat und Religion und einer zeitgemäßen Bildung für Kinder und Jugendliche nicht an staatliche Schulen.
Anmerkungen
1 Koalitionsvertrag 2023 – 2026 CDU/SPD: https://spd.berlin/media/2023/04/Koalitionsvertrag_2023-2026_.pdf.
2 Bremer Klausel; Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art 141: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_141.html.
3 Teilnehmerzahlen in: Schriftliche Anfrage an das Berliner Abgeordnetenhaus: https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-14938.pdf.
4 CDU Berlinplan: https://cdu.berlin/berlinplan , Kapitel „Gute Bildung“.
5 Pressemitteilung: https://ibka.org/de/presse-23/religionsunterricht-berlin.