Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 1/23 | Geschrieben von Christian Casutt

Staatsleistungen

Feudaler Stachel im Fleisch des säkularen Rechtsstaats

Die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland wird von Verfassungsjuristen als „gemäßigt“ bzw. „hinkend“ beschrieben. Dieses „säkulare Hinken“ zeigt sich nirgendwo deutlicher als bei den Staatsleistungen an die Kirchen, verbunden mit dem politischen Versagen im Hinblick auf die seit mehr als hundert Jahren grundgesetzlich geforderte, aber bis heute nicht vollzogene Ablösung dieser Leistungen. Das Vorhaben der Ampelregierung, in der laufenden Legislaturperiode ein Rahmengesetz zu verabschieden, mit dem die Beendigung der Staatsleistungen eingeleitet werden soll, ändert nichts an der grundsätzlichen Problematik. Denn die eigentliche Ablösung muss auf Basis des Bundesgesetzes durch die Länder erfolgen und die diesbezüglichen Modalitäten sind umstritten.

Es ist mit einem zähen, langwierigen Prozess zu rechnen, während dessen die Zahlungen weiter fließen. Und die Beträge steigen jährlich sogar, da sie an die Beamtengehälter gekoppelt sind. Letztlich zeichnet sich auch eine insgesamt sehr hohe Ablösesumme – vermutlich im Bereich von mehreren Milliarden Euro – zugunsten der Kirchen ab. Diese von den Steuerzahler:innen zu tragende Entschädigung wäre dann die finale „Pointe“ zum Skandal um die Nichtbeachtung des Verfassungsgebots zur Beseitigung einer kostspieligen staatlichen Altlast, die ihren Ursprung in der Feudalzeit hat.

Die heutigen Ansprüche auf Staats­leistungen gehen auf Besitzübergänge zurück, bei denen kirchliches Vermögen in die Verfügungsgewalt der feudalen Fürsten gelangte. Dies geschah bereits während der Reformation und kulminierte im Rahmen der sogenannten Reichsdeputation mit ihrem Hauptschluss im Jahr 1803. Die gemeinhin als Säkularisationen bezeichneten Vermögenstransfers liegen also bis zu 500 Jahre zurück und datieren damit aus einer Zeit, in der an ein Deutschland nicht zu denken war und das „Heilige Römische Reich“ einen Flickenteppich aus annähernd tausend selbstständigen Herrschaftsbereichen darstellte. Leibeigenschaft und Fronarbeit waren Kennzeichen dieser Zeit. Das System aus Klassen und Schichten, Besitzenden und Besitzlosen, war fest gefügt, kontrolliert durch die Feudalherren und stabilisiert durch die Kirchen. Während weite Bereiche der Gesellschaft ums tägliche Überleben kämpften, vermochten es viele Adelige, ihre Söhne und Töchter gutdotiert in Domkapitel, Abteien und Stifte zu vermitteln. Die reichsunmittelbaren geistlichen Fürsten waren ohnehin mehr am Machterhalt und -ausbau als an Seelsorge und Gemeindeleben interessiert. Stellvertretend für den Zeitgeist steht das „Morgenlied einer frommen Magd“ des Domherrn Friedrich Eberhard von Rochow, bei dem er sich sein „Dienstmädchen“ idealiter so vorstellt: „Im Feld, im Bett, im Stall, / Da soll ich fromm sein überall: / So will es Gott, der diese Nacht / Mich schützte, daß ich bin erwacht. […] Kein Schaden soll durch mich geschehen. / Man soll mich niemals müßig sehn. / Mehrt sich durch mich der Herrschaft Gut, / So lohnt mir Gott, wenn sie’s nicht thut.“1
Die Reichsdeputation war der letzte Verwaltungsakt des 1806 untergehenden Reiches. Und obwohl hierbei die geistlichen Fürstentümer aufgelöst, die Vermögen der Domkirchen, Abteien und Klöster in weltlichen Besitz überführt wurden, war der Protest seitens der katholischen Kirche doch sehr verhalten. Denn es gab unzweifelhafte Vorteile aus der Neuorganisation. Das Reich mit seinen unzähligen kleinen und kleinsten Herrschaftsgebieten wurde auf dreißig selbstständige Einheiten reduziert. Die Versorgung des adeligen Nachwuchses mit lukrativen Positionen in den Domkirchen und Abteien wurde beendet. Der Humanist und Kirchenkritiker Johannes Neumann resümierte zutreffend: „Jetzt erst konnte ein effizientes Seelsorgesystem aufgebaut, konnten qualifizierte und engagierte Geistliche und Laien gewonnen werden, weil die Kirchen entfeudalisiert waren.“2
Für die Reformationszeit ist besonders aufschlussreich, wie sich die Vermögensübergänge von der alten Kirche in protestantischen Besitz vollzogen haben und mit welcher Sicht­weise die evangelische Kirche auf Basis dieser Vorgänge bis heute Ansprüche an die Staatsleistungen er­hebt. Zu­nächst waren im 16. Jahr­hundert ehemals katholische Landes­herren zum Protestantismus übergetreten und setzten sich selbst als oberste Kirchen­leiter („Behelfs-Bischöfe“) ein. Das Kir-
chenvermögen wurde inventarisiert und unter fürstliche Verwaltung gestellt. Diese, von den Protestanten als „Sequestration“ bezeichneten Pro­zesse, führten keineswegs dazu, dass das Kirchengut in Gänze oder auch nur überwiegend anschließend für andere als kirchliche Zwecke eingesetzt wurde. Sicher gab es auch Umwidmungen von ehemals kirchlichem Vermögen zu anderen als geistlichen Aufgaben. Dass im Kontext der Reformation auch die meisten Klöster aufgelöst und deren Besitztümer vom Feudalstaat übernommen wurden, war keine Besonderheit in protestantischen Gebieten, sondern kam auch in katholischen Herrschaftsbereichen vor. Die monastische Tradition hatte sich bereits damals überlebt. Entscheidend war aber der Entzug der „römischen“ Oberaufsicht über das ehemals katholische Kirchenvermögen. Daher sprach man katholischerseits bezüglich dieser protestantischen Aneignung nicht nur von Säkularisation, sondern mitunter sogar von „Kirchenraub“.
Heute verwendet auch die evangelische Kirche, die im Zuge der Reichsdeputation praktisch unbehelligt geblieben war, mit Blick auf die Reformation wieder den Begriff der Säkularisationen, die zu ihren Lasten erfolgt seien. Und sie verweist damit besonders auf die seit damals veränderte Rolle der Pfarrer bzw. der neu eingesetzten protestantischen Pastoren, die nach Wegfall des Zölibats nicht mehr nur selbst, sondern zusammen mit einer Familie zu versorgen waren. Obwohl die Pfarrpfründen (Pfarrvermögen) im Grunde nicht geschmälert wurden, sei dies ohne „staatliche“ Unterstützung oftmals nicht zu leisten gewesen. Folgt man dieser „kreativen“ Argumentation, bliebe dann noch die Klärung der Frage, ob sich vielleicht auch der Landesherr als oberster Bischof selbst enteignet hatte.
Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass der Urgrund der Staats­leistungen in der vordemokratischen, feudalen Epoche liegt, die seit mehr als zweihundert Jahren vergangen ist, fragt sich: Wie ist zu rechtfertigen, dass der säkulare demokratische Staat wegen eines Relikts aus der Feudalzeit – den sogenannten Enteignungen der Kirchen – auch heute noch Zahlungen aus allgemeinem Steuergeld leistet?
Eine plausible Begründung lässt 
sich dafür nicht finden. Dass die Staatsleistungen bis heute weiter fließen, hat mehrere Ursachen. Trotz klaren Auftrags der Weimarer Reichs­verfassung (Artikel 138 Absatz 1, Satz 1: „Die [...] Staatsleistungen werden [...] abgelöst.“) und Übernahme ins Bonner Grundgesetz, wurden nach 1919 weitere Konkordate und Kirchenverträge abgeschlossen, die stets auch die Fortführung der Staats­leistungen umfassten. Waren die Verträge in der Weimarer Zeit von Anzahl und Wert noch einigermaßen begrenzt – wobei man bereits über deren Verfassungs­konformität trefflich streiten kann –, führte die Vertrags­gestaltung in der Bundes­republik nach 1949 und besonders nach 1990 zu einem Wildwuchs an Vereinbarungen – juristisch elegant als „Novationen“ bezeichnet – mit den Kirchen. Diese waren den staatlichen Stellen an Dokumenten aus ihren alten Archiven materiell haushoch überlegen und konnten so für sich stets ein vertragliches Maximum erzielen. Dabei stellen die Verträge in den fünf östlichen Bundes­ländern, die über einen ver­schwindend geringen Anteil kirchlich gebundener Bevölkerung verfügen, ein besonderes Kuriosum dar. In all diesen Übereinkünften hat sich der Staat ohne Zweifel – sicherlich in „freundschaftlichem Geist“, aber erkennbar – „über den Tisch ziehen lassen“.
Die Hauptursachen für die heutige Situation im Kontext der feudal induzierten Staatsleistungen liegen in der über die Jahrhunderte eingeübten kirchlichen Interessenvertretung und in der Unfähigkeit der Politik, diese Vertretung als das zu sehen, was sie ist: profaner Lobbyismus in christlichem Gewand. Die Professionalisierung der Lobbyarbeit ist dabei soweit fortgeschritten, dass es oft keiner direkten Ansprache der Kirchen an die Politik bedarf, um ein Anliegen vorzubringen; die Politiker besorgen das „Lobby-Geschäft“ oft unaufgefordert selbst. Besonders gern wird dann, wenn ein Thema strittig erscheint, daran erinnert, welchen Wert die Kirchen für die Gesellschaft besitzen, mit ihren Kitas, Schulen, Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und ihrer Sozialarbeit, gleichgültig, ob diese großzügig staatlich finanzierten „Wohltaten“ etwas mit dem diskutierten Thema zu tun haben oder nicht. So leitete der SPD-Abgeordnete Lars Castellucci seine Rede anlässlich der Behandlung des Gesetzentwurfs zur Ablösung der Staatsleistungen in der letzten Legislatur mit den Worten ein: „Wir haben ganz konkret zu danken für jede Stunde Singen im Chor, für jede Stunde Besuchsdienst, häufig bei Menschen, die sonst überhaupt keine Ansprache mehr haben.“3 Und die kürzlich bestallte Chef-Lobbyistin der EKD beim Bund, Anne Gidion, warnte im WDR-Interview im Zusammenhang mit der aktuellen Vorbereitung eines Bundesgesetzes vor den Folgen einer zu geringen Ablösesumme, sie sagte sinngemäß: „Wenn die Grundfinanzierung für den Dienst an der Gesellschaft, den die Kirchen leisten, weniger wird, dann wird auch der Dienst weniger.“4 Wohlgemerkt, es ging bei diesem Gespräch um eine derzeit in der Debatte befindliche Ablösesumme in Höhe von rund 11 Milliarden Euro.
Aber kann es wirklich wahr sein, dass sich der säkulare Rechtsstaat bei der Ablösung der Staatsleistungen, also beim Entfernen dieses „feudalen Stachels“, erneut von den Kirchen übervorteilen lässt? Welchem Demokratie­verständnis entspricht es, wenn in Hinterzimmern über Milliar­den­beträge verhandelt wird, ohne die zahlende und mittlerweile nicht­christliche Bevölkerungsmehrheit zu informieren oder gar einzubeziehen? Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, dass der Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staats­leistungen nun end­lich in einem dem Rechtsstaat adäquaten, transparenten und Steuergeld schonenden Verfahren zügig umgesetzt wird.

Anmerkungen

1 Bruno Preisendörfer: Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit, 2. Aufl., Berlin 2015, S. 195
2 Johannes Neumann: Humanismus und Kirchenkritik. Beiträge zur Aufklärung, Aschaffenburg 2019, S. 97
3 Lars Castellucci im Bundestag, Plenar­protokoll 19/189 vom 5.11.2020, S. 23840
4 Anne Gidion im WDR-Interview, WDR 5 Morgenecho vom 4.2.2023