Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 3/23 | Geschrieben von IBKA Bremen

Das Bremer Wahlrecht nutzt fundamentalistisch-religiösen Gruppen

Unlängst hat die Fraktionsvorsitzende der Bremer Grünen, Henrike 
Müller, eine Änderung des Bremer Wahlrechts eingefordert. Be­grün­det hat sie diesen Vorstoß mit der personellen Zusammen­setzung der Bürgerschaftsfraktionen nach der letzten Wahl im Mai. Durch das Personenwahlrecht waren die von den Parteien auf­gestellten Listen zum Teil verändert worden und deutlich mehr Männer als Frauen sowie in einigen Parteien auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund durch das Wähler:innenvotum in die Bürgerschaft gewählt worden. Diese Beobachtung ist zunächst richtig. Es lohnt sich jedoch genau hinzuschauen, denn es sind nicht einfach die Männer oder Personen aus großen Zuwander:innengruppen, die gewonnen haben.

Personen, die auf den SPD- und CDU-Listen kandidieren und deren Name auf einen eventuellen Migrations­hintergrund hinweist, bekamen sehr unterschiedliche Wahlergebnisse. Des­halb ist der Rückschluss, dass Menschen einer Sprachgruppe bzw. Menschen, deren Großeltern oder Eltern aus einem bestimmten Herkunftsland kommen, dann auch nur Personen aus dieser Gruppe wählen, ist nicht haltbar. Die Herkunft oder das Geschlecht sind nicht die wahlentscheidenden Ursachen gewesen.

Der Anteil der gewählten Abgeord­neten mit Migrations­hinter­grund liegt bei 21 Prozent, bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von ca. 37 Prozent. Der in einigen Medien vermutete Verdacht einer überproportionalen Invasion von Menschen mit Migrationshintergrund hat nicht stattgefunden. Die gesicherten Listenplätze insbesondere bei Grünen und CDU waren Menschen mit deutschen Großeltern vorbehalten. Ge­wählt wurden Aktivist:innen oder Unter­stüt­zer:innen aus homogenen ideologischen, hauptsächlich religiösen Gruppen. Nicht gewählt wurden Einzelkämpfer:innen, die „nur“ in der Partei aktiv sind.
Auf der SPD-Liste schafften drei konservative Muslime mit Personen­stimmen um die türkisch nationalistische Religionsgemeinschaft Milli Görüs und die Schura Bremen den Sprung ins Parlament. Auch auf der CDU-Liste zog ein Kandidat mit Unterstützung des konservativen islamistischen Spektrums aus DITIB und ATIB Moscheen sowie der UID, dem verlängerten Arm der türkischen AKP, ins Parlament ein. Da die konservativen Islamverbände patriarchale Männerbünde sind, wurden entsprechend nur Männer aus diesem Spektrum unterstützt.
Aber nicht nur muslimische Strö­mungen schafften es, ihre Leute ins Parlament zu wählen. Die Bremer Evangelikalen sind schon über viele Jahre erfolgreich mit der Mobilisierung in den Gemeinden und Gebetskreisen, um drei „ihrer“ Leute auf verschiedenen Parteilisten in die Bürgerschaft zu wählen. Bei etwa 3000 aktiven Evangelikalen, die gerade einmal 0,5 Prozent der Bevölkerung Bremens ausmachen, drei Personen in die Bürgerschaft (4,3 Prozent der Abgeordneten) zu bringen, die sich dort für die Förderungen der religiösen Schulen einsetzen, ist beachtlich. Seit 2023 sind es nur noch zwei, da eine Abgeordnete nicht mehr antrat. Hätten die drei Evangelikalen auf der Liste der „Bibeltreuen Christen“, einer den Evangelikalen seelenverwandten Partei, kandidiert, hätten sie nicht einmal ein Prozent erhalten.
Bei der Bremer SPD hat diese Verbindung mit religiösen Gruppen zumindest zahlenmäßig funktioniert. Evangelikale (1 Abgeordneter) wurden genauso angesprochen wie Aleviten (2 Abgeordnete) und die konservativ muslimische Religionsgemeinschaft um die Schura Bremen und Milli Görüs (3 Abgeordnete). Von den 23 SPD-Abgeordneten in Bremen-Stadt wurden immerhin 5 durch die Unterstützung durch religiöse Gruppen gewählt, die damit auch der Gesamtpartei zu Gute kamen.
Die vier gewählten Kandidaten des konservativ religiösen, islamischen Blocks in SPD und CDU erhielten zusammen 12.800 Einzelstimmen. Wären sie als islamische Partei (entsprechend den „Bibeltreuen Christen“) angetreten, hätten sie mit ca. 1,2 Prozent es nicht in der Bürgerschaft geschafft, denn um die 5 Prozent Hürde zu überspringen, bedürfte es ca. 55.000 Stimmen. Ein Teil dieser Abgeordneten gilt auch als Anhänger des autoritären Regimes um Erdoğan in der Türkei.
Die Strategie einiger religiösen Gruppen, den Weg über die großen Parteien zu gehen, um in Parlamente einziehen zu können, geht auf. Dies sind nicht nur konservative Muslime und Evangelikale, auch Jesiden und Aleviten wurden von ihren Gemeinden und Medien angehalten die „Ihren“ zu wählen, was auch bei vier Personen erfolgreich war. Der Marsch durch die Institutionen, um sich politischen Einfluss zu sichern, ist zu einem erprobten Mittel religiöser Gruppen geworden. Es reichen ca. 600 bis 700 Personen aus einer verfestigten religiösen Gemeinschaft, um zwei Kandidat:innen in die Bürgerschaft zu befördern. Durch das Wahlsystem mit 5 Personenstimmen sind 7 „Religiöse“ in die Bürgerschaft eingezogen, die keinen aussichtsreichen Platz auf den Parteienlisten hatten. Einige „Religiöse“ haben auf Grund ihrer Wahlergebnisse aus vorherigen Wahlen 2015 und 2019 inzwischen sichere Listenplätze in ihren Parteien errungen.
Insgesamt wurden bei der Bürger­schaftswahl im Mai 2023 aus dem Wahlbereich Bremen Stadt (ohne Bre­merhaven) 69 Abgeordnete in die Bürgerschaft gewählt. Dabei schafften es 11 Abgeordnete mittels Personenstimmen von ihrem aussichtslosen von den Parteien bestimmten Listenplatz in die Bürgerschaft einzuziehen. Dass davon 7 „Religiöse“ sind, unterstreicht die Wirkungsmacht identitär geprägter Gruppen.
Daneben gibt es weitere, sehr eng mit Kirchen agierende Personen in der Bürgerschaft: Zwei CDU-Abgeordnete gehören zu den Sprechern des „Evan­gelischen Arbeitskreises“ in der CDU, es gibt SPD-Abgeordnete, die hauptberuflich zentrale Funktionen bei der Inneren Mission ausfüllen, und Abgeordnete, die in Kirchenvorständen von zumeist evangelischen Kirchen­gemeinden tätig waren oder sind.
Alle religiösen Aktiven zusammen, die regelmäßig in ihre Gotteshäuser gehen und an Prozessionen teilnehmen, machen in Bremen etwa 30.000 Personen aus, das sind zwischen 5 und 6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Bremer Stadtparlament (ohne Bremerhaven) sitzen mindestens 16 konservativ Religiöse, bzw. Personen die von Religionsgemeinschaften bei der Wahl unterstützt wurden oder mit diesen Religionsgemeinschaften regelmäßige Kontakte zum gegenseitigen Vorteil unterhalten. Dies sind immerhin 23 Prozent der Abgeordneten, mehr als das Dreifache ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung in Bremen.
Das 5-Stimmen-Personenwahlrecht war ursprünglich als Möglichkeit gedacht, den Bürger:innen zu mehr Wahlmacht gegenüber den Parteien zu verhelfen. Doch die Parteien befinden nach wie vor darüber, wer überhaupt auf die Wahllisten aufgenommen wird, und ideologisch-religiöse Gruppen „wählen“ ihre Kandidat:innen durch Mobilisierung in den eigenen Reihen nach oben. Individuell denkende und handelnde mündige Bürger:innen haben mit dem 5 Stimmen Wahlrecht sogar noch weniger Einflussmöglichkeiten, denn die Kandidat:innen der religiösen Fundamentalisten sind auf dem Stimmzettel nicht als solche erkennbar.
Allerdings benötigen die religiösen Gruppen für das Funktionieren des Marsches durch die Institutionen auch Personen in den Parteien, die gezielt mit der Aufstellung von Kandidat:innen aus ideologisch-religiösen Gruppen auf unteren Listenplätzen deren Umfeld und deren Stimmenpotential an die Partei binden wollen.
Dieses „Geschäft“ zwischen einigen Parteien und religiösen Gruppen funktioniert nicht allein auf der Ebene der Sicherung von Wahlprozenten und der damit verbundenen Vergabe von Posten. Auf Dauer funktioniert es nur, wenn die den Staat verwaltende Partei, in Bremen überwiegend die SPD, diesen Religionsgemeinschaften auch Zugeständnisse macht.
Religiöse Kindergärten und Schulen, öffentliche Aufwertung der Religions­gemeinschaften bis hin zu finanziellen Zuwendungen aus allgemeinen Haushaltsmitteln stehen auf dem Wunschzettel der Religionsverbände. Diese Wünsche werden seit Jahren bedient und wird auch solchen Reli­gions­gemeinschaften zuteil, die Men­schenrechte nicht achten, Anti­semitismus und Homophobie befördern und Frauen nicht als gleichberechtigte Personen ansehen.
Insbesondere in der SPD dürften damit Konflikte vorprogrammiert sein. Das Weltbild vieler fundamentalistisch religiöser Abgeordneten in der SPD passt überhaupt nicht zu vielen programmatischen Aussagen ihrer Partei. Vor Jahren nahm etwa der jetzige Fraktionsvorsitzender der SPD, Mustafa Güngör nicht an einer Abstimmung zur Ehe für Alle in der Bürgerschaft teil. Mit den ethischen Vorstellungen seiner Jugendaktivitäten in einer Milli Görüs Moschee war die Vorstellung gleichgeschlechtlicher Ehen nicht zu vereinbaren. Mit Zuwendungen und Posten können solche weltanschaulichen Gräben nicht dauerhaft überdeckt werden.

Der Beitrag ist eine erweiterte Fassung eines Textes, der ursprünglich auf https://religionsfreiinbremen.de erschien.