Prisma | Veröffentlicht in MIZ 4/11 | Geschrieben von Heiner Jestrabek

Aufklärerisches Denken und Religionspolitik in China

Das deutsche Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gibt aktuell bekannt: „Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen entwickeln sich mit großer Dynamik und sind dabei insgesamt gut und frei von größeren Friktionen. Deutschland ist mit Abstand Chinas größter europäischer Handelspartner und China ist Deutschlands wichtigster Handelspartner in der Region Asien/Pazifik und inzwischen drittgrößter deutscher Handelspartner weltweit. Im Jahr 2010 belief sich das bilaterale Handelsvolumen auf insgesamt 130,17 Mrd. Euro und erreichte damit ein neues Allzeithoch. Auf die deutschen Exporte nach China entfielen 53,64 Mrd. Euro und auf die deutschen Importe aus China 76,53 Mrd. Euro. Auch 2011 setzt sich dieser positive Trend weiter fort. Beide Länder haben sich deshalb zum Ziel gesetzt, das Handelsvolumen bis zum Jahr 2015 auf 200 Mrd. Euro zu steigern.“1

Folgt diesen wirtschaftlichen Verbindungen ein vermehrter kultureller Austausch? Kann man annehmen, dass parallel zu den wirtschaftlichen Interessen ein Bedürfnis nach einem Verständnis der chinesischen Geisteswelt wächst, einem Denken, das immerhin nahezu ein Viertel der Menschheit
prägt? Für uns stellen sich Fragen nach dem chinesischen Verständnis der
kulturellen, politischen und religiösen Strömungen. Welche Rolle spielten und
spielen Aufklärung, Rationalismus und freies Denken in China? Werden bei der
Diskussion um Menschenrechte, Religion und Politik, im noch immer andauernden ideologischen „kalten Krieg“, tradierte europäische Feindbilder projiziert? Ohne Zweifel lassen sich diese Themen nicht ohne einige Kenntnisse der langen geschichtlichen Entwicklung der chinesischen
Denkrichtungen betrachten. Der deutsche Buchmarkt befriedigt jedoch dieses
Wissensbedürfnis nur unzureichend, bietet bisher jedenfalls noch kaum Gesamtdarstellungen von der Frühzeit bis in unsere Tage. Einen Versuch hierzu unternahmen Ji YaLi und Heiner Jestrabek.2 Dass die Instrumentalisierung von feudalen Religionsführern für einen interkulturellen Dialog vollkommen ungeeignet ist, stellte ausführlich Colin Goldner klar.3

Philosophie und Spiritualität?

Noch immer wird den unkritischen Lesern in Europa suggeriert, Philosophie aus Ostasien sei überwiegend mit Spiritualität in Verbindung zu bringen. Der westliche Buchmarkt ist regelrecht überschwemmt von Literatur, bei der eine jahrtausendealte Kultur reduziert wird, etwa auf religiösen Daoismus mit seinen zweifelhaften Lebensverlängerungs-Elixieren, pseudowissenschaftlichen Ausdeutungen von Feng Shui („Wind und Wasser“) bis hin zu Weissagungs-Orakeln aus dem Buch Yi-Jing. Viele dieser Autoren nehmen die Leser mit auf einen Weg zu einer mystischspirituellen Überlieferung. Manche Titel versprechen dem Käufer sogar „Nie wieder müde“ zu werden, wenn man Qi Gong („Krafthauch“ und „Leistung“) nach deren Anleitung praktizieren würde. Unter Vermeidung rationaler Erklärungen werden so trivial-abergläubische Deutungen verkauft und suggerieren daraus Schlüsse auf das reale menschliche Alltagsleben.

Multiethnische und Religionspolitik

In Ostasien wird das Phänomen Religion und dessen Einfluss auf den politisch-gesellschaftlichen Überbau grundsätzlich anders interpretiert als in Europa. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in China im Vergleich zu Europa (bis zum Ural) auf einer fast gleich großen Fläche doppelt so viele Menschen leben; in China zudem ungleich verteilt und überwiegend konzentriert in den östlichen Landesteilen. Das Land ist multikulturell mit über 70 anerkannten Ethnien (u.a. Zhuang 16 Mio. Mandshu 10 Mio., Miao 9 Mio., Uiguren 8 Mio., Mongolen 6 Mio., Tibeter 5 Mio.). So war und ist das Land zentral und laizistisch organisiert. In seiner Geschichte erlangten – im Gegensatz zu Europa – Kleriker nie dominierenden politischen Einfluss. Das Land ist bis auf wenige entwickelte Regionen noch immer überwiegend ein Entwicklungsland und dabei, die wirtschaftliche Ausplünderung und Zerstörungen durch Kolonialismus und japanische Besatzung zu überwinden (Kolonialkriegsepoche vom Opiumkrieg 1840 bis zum Jahr 1949, diplomatische und wirtschaftliche Isolierung bis 1971). Notwendigerweise ist das Land wirtschaftspolitisch orientiert auf Entwicklung und Ausbau der Binnenstrukturen; außenpolitisch auf friedlichen Handel und (im Gegensatz zu den USA und Europa) ohne außenpolitische kriegerische Engagements.

Die Verfassung Chinas von 1982 garantiert die (eingeschränkte) positive und negative Religionsfreiheit im Artikel 36: „Die Bürger der VR China genießen die Glaubensfreiheit. Kein Staatsorgan, keine gesellschaftliche Organisation und keine Einzelperson darf Bürger dazu zwingen, sich zu einer Religion zu bekennen oder nicht zu bekennen, noch dürfen sie jene Bürger benachteiligen, die sich zu einer Religion bekennen oder nicht bekennen. Der Staat schützt die normalen religiösen Tätigkeiten. Niemand darf eine Religion dazu benutzen, Aktivitäten durchzuführen, welche die öffentliche Ordnung stören, die körperliche Gesundheit von Bürgern schädigen oder das Erziehungssystem beeinträchtigen. Die religiösen Organisationen und Angelegenheiten dürfen von keiner ausländischen Kraft beherrscht werden.“4

Natürlich kann angenommen werden, dass sich in China wie in Europa Verfassungsanspruch und Wirklichkeit nicht immer decken. Größere Verletzungen der garantierten Glaubensfreiheit fanden zuletzt in der Zeit der „Kulturrevolution“ (1966-1976) statt. Anerkennenswerterweise entschuldigten sich danach die Staatsführer bei den Opfern und es erfolgten umfangreiche Entschädigungsmaßnahmen.

Charakteristisch für die chinesische Religionspolitik ist – kontinuierlich seit der Kaiserzeit, in der Republik und bis heute in der Volksrepublik – eine an folgenden Prinzipien orientierte Vorgehensweise:

  • Der Staat genießt Priorität gegenüber den Religionsgemeinschaften;
  • keine Glaubensgemeinschaft wird bevorzugt oder diskriminiert;
  • Religionsausübung ist Privatangelegenheit; sofern die Religionsausübung sich auf rein kultische Handlungen beschränkt, wird sie nicht behindert und erfährt Unterstützung;
  • politische Umsturzbestrebungen, getarnt in Form von Religionsgemeinschaften, werden als solche behandelt, d.h. unterdrückt.

Tatsächlich spielte die Verquickung von Religion und Politik immer dann eine
Rolle, (positiv) wenn revolutionäre Gesellschaften die zahlreichen Bauernrevolutionen in Chinas Geschichte organisierten, oder (negativ) wenn Fremdherrschaft und Imperialismus das Volk unterdrückten (Missionare als Agenturen der Kolonialmächte; theokratische lamaistische Verhältnisse in den unterentwickelten Randgebieten Mongolei und Tibet).

Das am wenigsten religiöse Land der Erde

Heute gilt China als das am wenigsten religiöse Land der Erde. Nach offiziellen
Angaben gab es im Jahr 2008: 106 Mio. Buddhisten, 40 Mio. Daoisten, 20 Mio.
Muslime, 16 Mio. protestantische und 4 Mio. katholische Christen. Rund 1,1 Milliarden Chinesen bekennen sich zu keiner Religion. Es muss natürlich davon ausgegangen werden, dass große Teile dieser Angaben geschätzt sind (eine Registrierung im Rahmen einer staatlich eingetriebenen „Kirchensteuer“ fände dort kein Verständnis). Neben den offiziellen Religionen finden sich noch weit verbreitet Vorstellungen von Ahnenkult, Wahrsagepraktiken, Horoskop- und Radiäsiegläubigkeit und weitere alltagsabergläubische Praktiken. Die modernen gebildeten Chinesen sehen diese Phänomene ambivalent und überwiegend als Symptome von Rückständigkeit, die humorvoll bis desinteressiert betrachtet werden.

Modern scheint gegenwärtig ein Trend, der modernes, weltoffenes, aufgeklärtes
und naturwissenschaftliches Denken einerseits, mit Achtung und Neuentdeckung der langen kulturellen und literarischen Tradition verbindet. Dies ist offenbar kein Widerspruch, denn Chinas Kultur bietet eine durchgängig aufklärerische Tradition in den zahlreichen Denkschulen, die materialistische oder rationalistische Ansätze verfolgten. Lange vor der europäischen Aufklärung gab es eigenständige Traditionen, die aus den Gegebenheiten der chinesischen Gesellschaft und den Positionen der traditionellen chinesischen Philosophie entstanden waren – unabhängig von den aus dem Ausland übernommenen Lehren, die in China sehr einflussreich wurden (Buddhismus aus Indien, Liberalismus und Marxismus aus Europa). Im Übrigen erfuhren diese Lehren bei ihrer Transformation eine deutlich spürbare Sinisierung und Inhaltsverschiebung.

Philosophie – laizistisch und praxisorientiert

Die chinesische Philosophie war schon im Altertum immer überwiegend laizistisch und praxisorientiert. Im Gegensatz zur indischen Philosophie waren hier metaphysische Spekulationen eher die Ausnahme als die Regel. Da Religionssysteme kaum reale politische Macht ausüben konnten (wie in der europäische Geschichte das typische „Bündnis von Thron und Altar“), musste Religionskritik auch nicht wie in Europa die zentrale Rolle bei der Emanzipation
des Denkens spielen. Wichtige Schwerpunkte in China waren dagegen das Streben noch „Harmonie“, die Suche nach dem „Goldenen Mittelweg“ oder nach „Maß und Mitte“. Damit hing die Gegnerschaft zur Einseitigkeit und zum Extrem zusammen. Auch sah man eine „Erkenntnis um der Erkenntnis willen“ als nicht nützlich an. Überwiegend wurde eine weltanschauliche und religiöse Toleranz propagiert. Es wird zwar von vielen geistigen Auseinandersetzungen berichtet, aber gewaltsame Bekehrungs- und Unterdrückungsversuche hat es von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht gegeben.

Philosophen als Skeptiker und Rationalisten

Schon bei einer der ältesten und bis heute dominierenden Philosophenschule, der Rujia (Kongfuzianismus), findet sich eine starke Dominanz von Agnostizismus und Laizismus. Kongfuzi (551-479 v.u.Z.) befasste sich vor allem mit den Beziehungen zwischen den Menschen und den gesellschaftlichen Vorgängen. Von Jenseitigen, Göttern und Geistern, wollte er nichts wissen. Gerade dieser Aspekt stellt eine bemerkenswerte Errungenschaft dar. Erstmals in der Weltgeschichte wurde ein laizistisches Modell für eine menschliche Gesellschaftsordnung und deren Ethik entworfen, ohne die bislang obligatorische Rechtfertigung durch eine göttliche Offenbarung. Einem Schüler gegenüber soll der Meister sogar in gereiztem Ton erklärt haben: „Wo soll man so viel Zeit hernehmen, sich auch noch um Götter und Dämonen zu kümmern?“

Es gibt viele weitere Beispiele für diese Ausrichtung der Philsophie. Die klassischen chinesischen Philosophen Kongfuzi, Mengzi (372-289 v.u.Z.) und Xunzi (313- 238 .u.Z.) waren – auch nach europäischer Begrifflichkeit – durchaus Rationalisten. Die Idealisten Laozi (5./6. Jh. v.u.Z.) und Zhuangzi (370-280 v.u.Z.) waren wahrscheinlich gar keine realen Personen und nur bei Mozi (470-380 v.u.Z.) finden sich religiöse Bezüge, verbunden allerdings mit betonter Gesellschaftskritik. Ein regelrechter Individualist und Epikuräer war
Yang Zhu (450-380 v.u.Z.). Das Ablegen beschränkter Religionssatzungen hielt er
für eine wichtige Vorbedingung für die Freiheit der Persönlichkeit aller Menschen, die er von der herrschenden Despotie zusammen mit der Priesterschaft in Abhängigkeit gehalten sah. Die französische Reiseschriftstellerin und ordinierte lamaistische Nonne Alexandra David-Néel (1868-1969) nannte Yang den „Fürst der Amoralisten und Verneiner des Heiligen“. Sie berichtete, dass die ersten christlichen Übersetzer von Yangs Werken ein Schauer des Entsetzens vor dem „ironischen und schrecklichen Gesicht des Bösen“ erfasst habe.

Wang Chong (27-97 u.Z.) galt schon seinen Zeitgenossen als der klassische
Ketzer und Aufklärer. Als materialistischer Philosoph und Zeitkritiker nahm er
abergläubische Praktiken ins Visier. Wang kritisierte die religiösen Vorstellungen seiner Zeit und die inzwischen etablierte kongfuzianistische Schule. Er lehnte die „Auffassung des Himmels als einer Gottheit“ ab und erklärte die Existenz der Natur aus dieser selbst.

Fan Zhen (450-515) griff gezielt die geistigen Grundlagen der buddhistischen
Lehren an. Mit logischen Argumenten widerlegte er die Metempsychose (Seelenwanderung) und das Karma (Vergeltungslehre) der Buddhisten. Damit verband er einen Angriff auf das in seiner Zeit Überhand nehmende Unwesen der Mönchsorden: „Die buddhistischen Mönche richten den Staat zugrunde und verderben die Sitten. Ihr Unwesen ist wie ein Unwetter ausgebrochen und führt zu nimmer endender Verschwendung. Ich bedauere diese Missstände und suche die Menschen aus dem Pfuhl der Verdammung emporzuheben. Denn warum vergeuden die Leute ihr Geld und Gut und richten sich zugrunde, nur um den Mönchen zu dienen und Buddha zu verehren, statt für ihre Verwandten zu sorgen und den Armen zu helfen? Sicherlich doch nur deshalb, weil ihnen ihr persönliches Seelenheil mehr am Herzen liegt, als ihnen die leiblichen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen bedeuten.“

Han Yu (768-824) legte sich sogar mit einem Kaiser an, der ein fanatischer Anhänger des Buddhismus war und Unsummen für Reliquien ausgab. In einer
„Denkschrift des Protestes gegen die Anbetung der Knochen Buddhas“ forderte er: „Ich bitte, diesen Knochen den maßgebenden Stellen zu übergeben, damit man ihn ins Wasser oder Feuer werfe ... sollte der Buddha die Macht besitzen, uns zu schaden, schiebt alles auf mich. Ich werde mich nicht beklagen!“

Liu Zong Yuan (773-819) erklärte die Entstehung des Universums materialistisch:
Der Himmel, die Erde und alle Produkte der Natur seien ohne Zutun von Überirdischem entstanden. Daran sei nichts Geheimnisvolles und Mystisches. Deshalb seien „die Menschen im Irrtum, wenn sie vom Himmel Mitleid und Güte erwarteten“.

Seit der späten Ming-Zeit (1368-1644) und während der letzten Dynastie der Qing (1644-1911) waren die besten Denker und Autoren in China durchweg Rationalisten und zunehmend Sozialkritiker, z.B. Li Zhi (1527-1602), Wang Fuzhi
(1619-1692), Yuan (1635-1704) und Gu Hongming (1857-1928). Sie waren die Wegbereiter der späteren Reformer um Kang Youwei (1858-1927) und der Revolutionäre von 1911 um Sun Yatsen (1866-1925).

Bahnbrechende Aufklärer im frühen 20. Jahrhundert waren der Darwinist und kämpferische Atheist Zhang Taiyan (1868-1936) und der bedeutendste Schriftsteller des modernen China Lu Xun (1881-1936), dessen Essays alle Ewiggestrigen vernichtend angriffen: „Da ihre Worte nicht mit ihren Taten übereinstimmten, machten sie sich nur unbeliebt. Wer die Pfaffen nicht mag, hasst auch ein pfäffisches Auftreten.“

Literatur:

Heiner Jestrabek / Ji YaLi: Die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Aufklärung, Rationalismus und freies Denken in der chinesischen Philosophie. Reutlingen 2011. Verlag freiheitsbaum edition Spinoza; 200 Seiten, Abbildungen, kartoniert, ISBN 978-3-922589-50-1.

Anmerkungen:

1 http://bmwi.de/BMWi/Navigation/Aussenwirtschaft/Bilaterale-Wirtschaftsbeziehungen/laenderinformationen,did=316542.html (Zugriff 30.11.2011).
2 Heiner Jestrabek, Ji YaLi: Die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Aufklärung, Rationalismus und freies Denken in der chinesischen Philosophie. Reutlingen u.a. 2011.
3 Colin Goldner: Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs. Aschaffenburg 2008.
4 Verfassung der Volksrepublik China angenommen auf der 5. Tagung des V. Nationalen Volkskongresses am 4. Dezember 1982.