Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/12 | Geschrieben von Juana Remus

„Beides, keines, intersexuell“?

Anmerkungen zur aktuellen Debatte über Intersexualität

Während in Deutschland die Debatte über Kinderrechte und religiöse Be­schneidung nicht abreißt, hat der Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sich am 25. Juni 2012 erstmalig mit der Verletzung von Rechten intersexueller Menschen und den bereits im Kindes­alter stattfindenden operativen Maß­nahmen beschäftigt.1 Dazu hörte der Bundestag diverse Expert_innen aus Medizin und Rechtswissenschaft an, aber auch Vertreter_innen von Selbst­hilfevereinigungen. Sie alle bezeichneten die Operationen an intersexuellen Kindern zur Geschlechtsfestlegung als einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und forderten Änderungen im Personen­standsgesetz (PStG).

Das PStG regelt, welche Infor­mationen über einen Menschen durch den Staat im Personenstandsregister gesammelt und eingetragen werden wollen – Geburtsdatum, Sterbedatum, Verwandtschaftsbeziehungen. So muss nach derzeitigem Recht innerhalb einer Woche nach der Geburt auch das Geschlecht des Kindes dem zuständigen Standesamt gemeldet werden. Das PStG selbst erläutert nicht, was unter „Geschlecht“ zu verstehen ist. Die zum PStG ergangene Verwaltungsvorschrift vom 1. August 2010 lässt allerdings nur „männlich“ und „weiblich“ zu.

Damit spiegelt die Verwaltungs­vorschrift das Wissen um Geschlecht in unserer Gesellschaft wider: Ge­schlecht ist eine binär angelegte Ord­nungskategorie, die nur die Einteilung in „männlich“ und „weiblich“ kennt. Als eine solche strukturiert die Kategorie Geschlecht unsere Gesellschaft, verschafft Privilegien, ist Grundlage von Diskriminierung. Dabei wird das Geschlecht eines Menschen nur dann Thema, wenn es nicht den gängigen Vorstellungen der Gesellschaft entspricht. In den letzten Jahren haben sich die sozialen Zuschreibungen zu den beiden Geschlechtern verändert und flexibilisiert. Frauen bekommen nicht mehr zwingend ein Porzellanservice als Auszeichnung, wenn sie die Weltmeisterschaft im Fußball gewinnen. Die Annahme, dass ausschließlich zwei Geschlechter existieren und dass dies auf biologischen Tatsachen beruht, scheint jedoch nach wie vor fest verwurzelt.

Es gibt kein biologisches Merkmal, das einen Menschen zu einer Frau oder einem Mann macht.2 Vielmehr existiert eine Vielzahl von Menschen, die jene Merkmale, die insbesondere einem Geschlecht zugerechnet werden, mit Merkmalen vereinigen, die dem anderen Geschlecht zugeordnet werden: Personen mit weiblichem Phänotyp und XY-Chromosomen, Personen mit männlich assoziiertem Aussehen und Eierstöcken, Personen mit Penis und Scheide, Eierstöcken und Hoden.

Diese Menschen werden in Deutsch­land, Österreich und der Schweiz als „Intersexuelle“ pathologisiert.3 Der Begriff „Intersexualität“ ist weder eindeutig definiert noch unumstritten, auch weil er vermuten lässt, es handele sich um eine Form der Sexualität, des menschlichen Begehrens, welches sich „zwischen“ zwei Polen befindet. Intersexuelle Menschen eint bei allen Unterschieden vielmehr, dass ihre körperliche Verfasstheit in der Medizin als behandlungsbedürftig angesehen wird, weil sie nicht der gängigen Vorstellung von „männlich“ oder „weiblich“ entspricht. Insoweit ist Intersexualität abzugrenzen gegenüber Trans*, die körperlich alle Merkmale auf sich vereinigen, die gesellschaftlich einem Geschlecht zugeordnet werden, sich selbst jedoch einem anderen oder keinem Geschlecht zugehörig fühlen.

Seit Jahren kämpfen Intersexuelle für das Recht, so anerkannt zu werden, wie sie sind: als Personen mit einer anderen Körperlichkeit, deren Geschlechtsidentität, ebenso wie bei anderen Personen, weiblich, männlich, beides, keines, intersexuell sein kann.4

Um nunmehr auch im Personen­standsregister als jene bezeichnet zu werden, die sie sind, fordern einige intersexuelle Menschen, neben „weiblich“ und „männlich“ auch eine dritte Kategorie im Personenstandsrecht zu­zulassen. Andere wünschen die komplette Streichung des Geschlechtseintrages im Personenstandsgesetz.

Tatsächlich stellt sich die Frage, ob unsere Gesellschaft nicht auch akzeptieren könnte, dass es Menschen gibt, die nicht in die Schubladen „männlich“ oder „weiblich“ passen. Auch Menschen, die geschlechtszuweisende Operationen nicht erleben mussten, sowie Trans* müssen in einer binär strukturierten Gesellschaft leben, die ihre Körperlichkeit und ihre Geschlechtsidentität nicht anerkennt.

Der Kampf der Selbsthilfegruppen5 und vieler engagierter Einzelpersonen hat zumindest dazu geführt, dass sowohl der Deutsche Ethikrat als auch der Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sich der Verletzung der Menschenrechte inter­sexueller Personen angenommen haben. Nach den Empfehlungen des Deutschen Ethikrates soll für Menschen mit uneindeutigem Geschlecht die Kategorie „anderes“ im Personenstandsrecht vor
gesehen werden.6 Dies ist auch in Indien, Pakistan, Nepal, Australien und Neuseeland möglich. Der Deutsche Ethikrat weist aber auch darauf hin, dass dringend zu überprüfen sei, ob eine Geschlechtseintragung im Perso­nenstandsregister überhaupt notwendig ist. Unterdessen hat im Mai 2012 Argentinien diese Eintragung bereits abgeschafft.

Neben der Zuschreibung zu einem der beiden gesellschaftlich und rechtlich anerkannten Geschlechter leiden intersexuelle Menschen vor allem an 
den bereits im Kleinkindalter vorgenomenen genitalverändernden Eingriffen. Mithilfe chirurgischer Techniken und von Hormonpräparaten werden sie den anerkannten Geschlechtern angepasst. Grund ist die fragwürdige Annahme, dass eine stabile Geschlechtsidentität bei intersexuell Neugeborenen nur durch operative Geschlechtszuordnung und durch Erziehung im zugewiesenen Geschlecht erreicht werden könne. Dazu werden Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter operiert – eine als zu groß angesehene Klitoris wird verkürzt, eine zu kleine Scheide gedehnt, Hoden im Hodensack festgenäht. Jene Geschlechtsmerkmale, die im Zweigeschlechtersystem nicht zum Zuweisungsgeschlecht passen, werden entfernt – so auch die Keimdrüsen, also Eierstöcke und Hoden. Da es operativ einfacher ist, eine Vagina neu anzulegen als einen Penis aufzubauen, werden ca. 90 % der operierten Personen dem weiblichen Geschlecht zugeordnet.

Viele intersexuelle Menschen, die Opfer dieser Eingriffe wurden, sind tief traumatisiert. Ihre Genitalien sind verändert, sie empfinden sie nicht als zu sich gehörig. Die vielen kosmetischen Eingriffe haben die erotische Sensibilität des Gewebes vermindert oder gar zerstört, die sexuellen Funktionen sind beeinträchtigt. Die Vornahme einer Klitorisreduktion beispielsweise wird von ihnen mit der Genitalverstümmelung an Mädchen verglichen, da hier ebenso ohne medizinische Notwendigkeit das Genital eines Kindes beschnitten wird.

Wurde einer Person bereits im Kindesalter eine Vagina angelegt – die Mediziner_innen sprechen von Neo-Vagina – muss diese nach der Operation regelmäßig gedehnt werden, um eine Rückbildung des Gewebes, also das Zusammenwachsen, zu vermeiden. Die Dehnung, Bougieren oder Dilatation genannt, erfolgt durch Einführen eines festen Gegenstandes und wird von vielen intersexuellen Menschen als schmerzhaft beschrieben. Teilweise wird das Bougieren mit einer regelmäßig vorgenommenen Vergewaltigung verglichen. Einige intersexuelle Menschen, die als Kinder dem Bougieren ausgesetzt waren, berichten später, jegliche Art der Penetration nicht ertragen zu können.

Die Entnahme der Keimdrüsen, die sogenannte Gonadektomie, erfolgt durch Mediziner_innen mit zweierlei Begründung. Zum Einen produzieren die vorhandenen Keimdrüsen eigene Hormone wie Östrogen und Testosteron. Diese könnten die Entwicklung des Körpers entgegen dem zugewiesenen Geschlecht befördern. Nach einer Gonadektomie kann die Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen durch die Einnahme von Hormonpräparaten im Sinne des Zuweisungsgeschlechts gesteuert werden.

Zum Anderen vermuten die Medi­ziner_innen, dass die Keimdrüsen ein Krebsrisiko in sich tragen. Dieses vermutete Krebsrisiko ist jedoch nicht erwiesen, es liegen kaum Statistiken vor. Auch wäre es möglich, die Keim
drüsen durch engmaschige Kontroll­untersuchungen zu überwachen und bei zweifelhaften risikobehafteten Veränderungen einen minimalinvasiven Eingriff vorzunehmen, statt eine Vielzahl von Menschen präventiv zu kastrieren.

Denn die Gonadektomie beendet auch die Fortpflanzungsfähigkeit. Dies kann zu schweren psychischen Problemen führen, da die Zeugungsfähigkeit als Ausdruck der gesellschaftlichen Konstruktion der reproduktiven Funktion der Frau ein identitätsstiftendes Moment darstellt. Zwar behaupten Mediziner_innen, dass einige intersexuell geborene Menschen von Geburt an unfruchtbar seien. Aber auch dieses Argument rechtfertigt solche schwerwiegenden Eingriffe nicht. So sind die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin bei weitem nicht ausgeschöpft, so dass einem Menschen zumindest das Recht zusteht, abzuwarten, ob sich eine Fortpflanzungsfähig­keit einstellt.

Neben der Unfruchtbarkeit verursacht die Entnahme der Keimdrüsen außerdem schwere körperliche Be­einträchtigungen. Denn auch die in Keimdrüsen gebildeten Hormone sind lebenswichtige Bestandteile des Körpers. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Knochenbildung, steigern die Entwicklung der Muskelmasse, regeln den Fettstoffwechsel, stehen
in Zusammenhang mit der Schilddrüsenfunktion. Aus der Selbsthilfe­gruppe „XY-Frauen“ ist bekannt, dass viele gonadektomierte XY-Frauen bereits im jungen Alter unter Blutarmut, Diabetes, Osteoporose und Funktionsstörungen der Nieren leiden. Daran ändert auch die Hormon­ersatztherapie nichts. Da die gegebenen Hormonpräparate zumeist nicht für Kinder zugelassen sind, werden sie erst im Pubertätsalter verabreicht, so dass zuvor bereits schwerwiegende körperliche Probleme aufgetreten sind. Auch sind die negativen Auswirkungen der Hormonersatztherapie nicht erforscht.

Zum ärztlichen Behandlungskon­zept gehört auch das Verschweigen der tatsächlichen Körperlichkeit. Niemand soll von der Variation des Körpers wissen, nicht die Verwandten, die Nachbarn, die Freund_innen. Auch den Kindern selbst wird nichts über ihren Körper gesagt, um die Anpassung an das zugewiesene Geschlecht nicht zu gefährden. So haben manche Eltern und Ärzt_innen Unfälle oder andere Krankheiten erfunden, um die Narben und die langen Krankenhausaufenthalte zu rechtfertigen. Dieses Verschweigen wird von vielen intersexuellen Menschen als schwerwiegender Vertrauensbruch beschrieben. Insbesondere die Beziehung zu den eigenen Eltern ist dadurch stark belastet.

Dass der Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sich nun endlich mit den menschenrechtswidrigen Eingriffen beschäftigt hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt allerdings viel zu tun. Denn so lange solch massive Eingriffe nicht gesamtgesellschaftlich geächtet sind, werden sie auch weiterhin stattfinden. Es ist daher nicht hinnehmbar, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie das „Beschneidungsurteil“ zwar begrüßt, aber gleichzeitig zu den massiven geschlechtszuweisenden Eingriffen an nicht einwilligungsfähigen Personen schweigt.

Anmerkungen

1 http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39209706_kw26_pa_familie/index.html.
2 Ausführlich aus biologischer Sicht: Heinz Jürgen Voss: Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, 2011.
3 Ausführlich zur Geschichte der Pathologisierung von intersexuellen Menschen in Deutschland: Ulrike Klöppel: XX0XY ungelöst – Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität, 2010.
4 Ausführlich zu den Anerkennungskämpfen: Juana Remus: Die Freiheit der Geschlechtswahl und der Schutz der körperlichen Integrität, in: Czycholl/Marszolek/Pohl (Hrsg.), Zwischen Normativität und Normalität, 2010, S. 193-209.
5 Die verschiedenen Selbsthilfegruppen sind im Internet zu finden unter: http://www.intersexualite.de/, http://www.xy-frauen.de/, www.zwischengeschlecht.org.
6 Die Stellungnahme des Ethikrates ist hier zu finden: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf.