Prisma | Veröffentlicht in MIZ 4/11 | Geschrieben von David Signer

Dalai Lama

Der letzte Heilige

Kürzlich ließ der 76-jährige Dalai Lama verlauten, dass er seine Reinkarnation selbst in die Hand nehmen wolle. Im Klartext: Mit etwa neunzig werde er die hohen Lamas und die tibetische Öffentlichkeit konsultieren, um darüber zu beratschlagen, ob man die Institution „Dalai Lama“ überhaupt weiterführen solle. Falls man zu einem positiven Entscheid gelange, werde er selbst seine eigene Nachfolge bestimmen. Die Nachricht ist etwas widersprüchlich, weil sie einerseits von einem Willen zur Einflussnahme über seinen Tod hinaus zeugt, andererseits die eigene Selbstdemontage fortführt. Nachdem der Dalai Lama nämlich letztes Jahr offiziell alle politische Macht in die Hand der tibetischen Exilregierung gelegt hat, stellt er nun also auch die Fortführung des spirituellen Amtes in Frage. Aber noch dieser Verzicht ist eine politische Aktion, denn China hat ein eigenes Prozedere installiert, um dereinst die Reinkarnation des verhassten Dalai Lama zu „identifizieren“. Und diese Usurpation seines Nachfolgers will der Dalai Lama vereiteln.

Parallel zu diesem offiziellen Rückzug des Dalai Lama haben sich in den letzten Monaten mehrere tibetische Nonnen und Mönche verbrannt, um für eine Rückkehr des Dalai Lama nach Lhasa zu demonstrieren. Woraufhin die chinesische Führung ihn umgehend bezichtigt hat, seine Anhänger zum Martyrium anzustiften. Was zeigt, wie sehr er immer noch – oder erst recht – in Bann zieht und polarisiert.

Im Westen stößt der Dalai Lama auf kritiklose Bewunderung, die sich durch
alle Bevölkerungskreise zieht. Seine allumfassende Güte ist gewissermaßen der
kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle einigen können in ihrer Sehnsucht nach einem letzten Heiligen und Helden – fast alle. Der Publizist Colin Goldner veröffentlichte schon 1999 das Buch Dalai Lama: Fall eines Gottkönigs, das neun Jahre später in einer aktualisierten Neuauflage erschien und die dunklen Seiten „Seiner Heiligkeit“ unter die Lupe nimmt. Er zeigt, was für ein rückständiges, armes Land Tibet vor dem chinesischen Einmarsch 1949 war und wie sehr die buddhistische Theokratie das Volk knechtete. In den idealisierenden Autobiografien des Dalai Lama ist davon nichts zu lesen. Man kann sich auch fragen, warum ein Mann, der sich gerne als gewöhnlicher, bescheidener Mönch präsentiert, drei Autobiografien (nebst unzähligen autorisierten Bildbänden) publiziert und permanent um die Welt jettet, in Fünfsternehotels übernachtet, sich in einem Rolls-Royce herumchauffieren und vom Massenpublikum wie ein Popstar in Stadien feiern lässt. Die Inszenierung als Vorzeige-Weiser kontrastiert dabei auffällig mit der Banalität seiner Botschaften.

Auch ist der tibetische Buddhismus denkbar schlecht geeignet für die westliche
Projektion einer reinen Spiritualität; er ist, wie kaum eine andere Spielart dieser Religion, durchsetzt von Okkultismus, Magie, Astrologie, Orakeln und ziemlich dubiosen Sexualpraktiken. Auch geht der Dalai Lama trotz seines Toleranzgeredes unzimperlich mit Abweichlern um, beispielsweise mit Anhängern der Schutzgottheit Dorje Shugden. Einige tibetische Priester, welche dieser „Häresie“ nicht abschworen, wurden aus ihren Klöstern verbannt oder erhielten sogar Morddrohungen. Vor dem höchsten indischen Gericht wurde deshalb gegen den Dalai Lama auf Menschenrechtsverletzung geklagt. Dabei hat der Dalai Lama, obwohl er im Westen gerne als „geistliches Oberhaupt der Tibeter“ apostrophiert wird, keinerlei Mandat für solch ein diktatorisches Gehabe. Er ist nämlich lediglich der bekannteste Vertreter der Gelupga („Gelbmützen“), einer der diversen buddhistischen Schulen. Aber nicht einmal dort besitzt er formal die oberste Autorität. Last but not least müsste er sich eingestehen, dass er trotz allem symbolischen Aktivismus und seiner unendlichen Weisheit politisch keinen Schritt weitergekommen ist seit der chinesischen Besetzung Tibets vor 52 Jahren.

All dies wird im Westen selten thematisiert, und entsprechend furios bezog
Goldner Prügel für sein Buch. Es mag zuweilen etwas polemisch gehalten sein, aber alle Aussagen sind gut belegt. Auch geht es ihm selbstverständlich nicht darum, das brutale chinesische Regime zu legitimieren. Unter Tibetologen ist vieles von dem, was Goldner beschreibt, so bekannt, dass es schon gar nicht mehr der Erwähnung wert scheint. Man wünschte sich allerdings sowohl unter diesen Fachpersonen wie auch unter Journalisten und Politikern gelegentlich etwas mehr Mut, auch einmal einen „everybody’s darling“ wie den Dalai Lama etwas weniger zu glorifizieren oder sogar zu kritisieren.