Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/11 | Geschrieben von Aurica Nutt

Die Gretchenfrage

Sechs ganz unterschiedliche Überlegungen zum Verhältnis von Frauen und Religion

Warum lassen sich Frauen die Unterdrückung und Erniedrigung durch Religionen gefallen? Sind Frauen religiöser als Männer? Warum begeistern sich so viele Frauen für die Gemeindearbeit in Kirchen, Moscheen und Synagogen, während Frauen bei der aktiven atheistischen Arbeit deutlich in der Minderheit sind?

Aurica Nutt ist Katholische Theologin und arbeitet an der Arbeitsstelle feministische Theologie und Genderforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Ferner ist sie Mitherausgeberin der schlangenbrut. Zeitschrift für feministisch und religiös interessierte frauen.

MIZ: Kirchengemeinden strotzen vor aktiven Frauen und auch in Esoterikläden ist das Publikum meistens weiblich. Sind Frauen religiöser als Männer oder wie erklären Sie sich diesen Sachverhalt?

Aurica Nutt: Ich glaube, dass Frauen aufgrund ihrer Sozialisation eine größere Affinität zur Religion haben, vielleicht weil sie eher gelernt haben, mit existenziellen Themen umzugehen: Was ist der Sinn meines Daseins? Was gibt meinem Leben Struktur? Wie finde ich Zeit zum Beten? Was bedeutet dieser Einschnitt in meinem Leben für mich? Gibt es Gott und wenn ja, wie ist sie/er? Damit spreche ich AtheistInnen im Allgemeinen oder Männern im Besonderen natürlich nicht ab, dass sie sich mit diesen Fragen befassen, aber sie
tun es auf andere Weise.

MIZ: Frauen in aller Welt tragen religiöse Strukturen sehr stark mit (durch religiöse Kindererziehung etc.), obwohl sie selbst an der Macht innerhalb dieser Strukturen nicht teilhaben, von den meisten Religionen sogar als minderwertig betrachtet und unterdrückt werden. Warum werden Religionen Ihrer Meinung nach trotzdem so stark von Frauen mitgetragen?

Aurica Nutt: Zumindest für die katholische Kirche kann ich sagen, dass viel Arbeit von Ehrenamtlichen an das Modell geknüpft ist, dass Männer voll erwerbstätig sind und Frauen sich eher Zeit für Aktivitäten in der Pfarrgemeinde nehmen können (oder zumindest in der vorigen Generation konnten). Und wenn ich unter der Woche mit Leuten zusammen bin, die ich mag, dann freue ich mich vielleicht auch, diese am Sonntag im Gottesdienst zu treffen. Aber ich will das nicht verkitschen, denn viele Frauen leiden auch unter den Benachteiligungen. Da greift dann wieder die „gelungene“ weibliche Sozialisation und verhindert Aufbegehren und Protest.

Was die religiöse Erziehung der eigenen Kinder angeht, die in der Tat selbst in
jungen Familien wieder den Frauen überlassen wird, vermute ich, dass viele diese selbst als schutz- und trostspendend erfahren haben. Die derzeitige „Renaissance der Engel“ ist bestimmt kein Zufall. Von jungen Frauen weiß ich, dass sie ihren Kindern dieses Sicherheitsgefühl über die Religion zu vermitteln versuchen. Diejenigen Anteile, die sie selbst als bedrückend erlebt haben, lassen sie dabei weg.

MIZ: Sie arbeiten als Katholische Theologin im Bereich Feministische Theologie
und sind Redakteurin einer religiös-feministischen Zeitschrift. Wie lässt es sich
miteinander vereinbaren, Feministin und zugleich Katholische Theologin zu sein, also Mitträgerin eines durch und durch männerdominierten Systems?
Aurica Nutt: Ich sehe das Problem, das Sie ansprechen und will es nicht kleinreden. Macht ist in der katholischen Kirche ungleich und ungerecht verteilt und Männer werden bevorzugt, weil sie das Priesteramt und alle damit verbundenen Einflussmöglichkeiten wählen können. Aufgrund des Zölibats und des insgesamt schwierigen Berufsbildes „Priester“ ist dieser Weg allerdings auch für viele Männer unattraktiv, was wir nicht vergessen sollten, aber sie haben immerhin die Freiheit einer Entscheidung dafür oder dagegen.

Es gibt ein Buch zu den wenigen Frauen, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das Zweite Vatikanische Konzil beobachten durften, ohne
selbst in Entscheidungen einbezogen zu werden.

Der Titel lautet: Guests in Their Own House („Gäste in ihrem eigenen Haus“) – eine sehr treffende Beschreibung für die Situation von Katholikinnen bis heute. Trotzdem würde ich nicht wie Sie von einem „durch und durch männerdominierten System“ sprechen, denn ich gehöre zu einer Generation, die in der katholischen Kirche auch weibliche Vorbilder erlebt hat – z.B. in meiner Jugend tolle Gemeindereferentinnen oder, ganz besonders wichtig, selbstbewusste und intelligente wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und einige Professorinnen im Theologiestudium. Und die Frauenforschung hat inzwischen die „starken Frauen der Bibel“ und wichtige historische Persönlichkeiten wie Hildegard von Bingen oder Teresa von Avila wiederentdeckt, von denen nicht nur ChristInnen fasziniert sind.

Ich bin gut mit anderen feministisch motivierten Katholikinnen vernetzt, auch
mit vielen Protestantinnen und einigen Jüdinnen und Muslimas. Was mich – und
vermutlich auch andere – bewegt, mich auf diese Weise zu engagieren, ist zum
einen die religiöse und spezifisch katholische Erziehung, die ich nicht abstreifen
kann wie ein Stück Kleidung. Viel wichtiger aber ist zum anderen, dass ich im Studium und in der Kirche auch von Männern gelernt habe, dass diese Religion viele menschenfreundliche Züge besitzt. Zu Recht wird kritisiert, dass diese Züge oft nicht erkennbar waren und sind, aber ich möchte gerne daran mitarbeiten, die schwierige Geschichte aufzuarbeiten, und mich dafür einsetzen, dass das Christentum auf seine spezifische Weise den Anspruch auf gutes Leben für alle formuliert, der sogar die Toten noch mit einschließt.

Trotzdem steht mein Engagement unter dem Vorzeichen, strukturell benachteiligt zu sein, und ich kenne Frauen, die sich aus guten Gründen gerade von der katholischen Kirche abgewandt haben. Aber ich möchte bleiben, auch wenn es unbequem ist, und z.B. mit interessierten Studierenden als auch den LeserInnen unserer ökumenischen Zeitschrift Schlangenbrut an Veränderungen arbeiten. Um auf das Bild vom Haus zurückzukommen: Wenn ich ausziehe und auf mein Recht mitzureden verzichte, überlasse ich anderen, was sie damit machen. Aber wenn ich selbst einklage, dass ich nicht nur Gast bin, sondern Mit-Besitzerin und -Gestalterin, dann kann ich mitmischen und -entscheiden, wie das Haus, mein Zuhause, eingerichtet wird und wer darin alles willkommen ist.

Literatur zum Thema von Aurica Nutt: Glaube und Geschlecht. Neuere Publikationen im Feld geschlechtersensibler Theologien, in: Theologische
Revue 107 (2011), S. 3-10.