Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/11 | Geschrieben von Arzu Toker

Die Gretchenfrage

Sechs ganz unterschiedliche Überlegungen zum Verhältnis von Frauen und Religion

Warum lassen sich Frauen die Unterdrückung und Erniedrigung durch Religionen gefallen? Sind Frauen religiöser als Männer? Warum begeistern sich so viele Frauen für die Gemeindearbeit in Kirchen, Moscheen und Synagogen, während Frauen bei der aktiven atheistischen Arbeit deutlich in der Minderheit sind?

Diese und andere Fragen haben wir ExpertInnen aus verschiedenen Wissenschafts-
und Erfahrungsbereichen gestellt. Bewusst haben wir hierbei nicht nur AtheistInnen gefragt, sondern auch ExpertInnen, die sich Religion und Spiritualität
verbunden fühlen, um auf diese Weise eine Innensicht auf die Thematik zu gewinnen, die die reine Außenbetrachtung nicht zu geben vermag. Unsere Fragen
gingen hierbei an VertreterInnen verschiedener Religionen und an WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Forschungsgebiete, um ein möglichst umfassendes Meinungsbild zu erhalten.

Bedauerlicherweise war die Antwortquote sehr gering, häufig kam es selbst trotz
mehrfacher Nachfragen nicht mal zu einer Reaktion. Ob dies am vermeintlichen
„Special Interest“-Thema Frau liegt, ob man sich an dem Thema nicht die Finger
verbrennen möchte oder ob hierin eine Dialogverweigerung mit AtheistInnen zu
sehen ist, das mögen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden.

Arzu Toker ist Schriftstellerin und Journalistin, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des IBKA und Gründungsmitglied des Zentralrats der Ex-Muslime.

MIZ: Frauen in aller Welt tragen die religiösen Strukturen sehr stark mit, obwohl
sie selbst an der Macht innerhalb dieser Strukturen nicht teilhaben, von den meisten Religionen sogar als minderwertig betrachtet und unterdrückt werden. Warum werden Religionen Ihrer Meinung nach trotzdem so stark von Frauen mitgetragen?

Arzu Toker: Ich könnte es mir leicht machen und sagen: Das liegt an der Intelligenz
der Frauen. Sie suchen stets Antworten auf Fragen und alle, die sie nicht beantworten können, kommen in die Gruppe X, den Fantasiebereich. Da sind sie gut aufgehoben und dort ist auch Religion anzusiedeln. Die Frauen wenden sich also Glaubensgemeinschaften in den Bereichen zu, in denen sie keine Anwort finden und ihrer Fantasie freien Lauf lassen können.

Sollten Sie jedoch die Frage auf den Islam beschränken, so kann ich nur sagen,
dass es für die Frauen aber auch für die Männer eine existenzielle Frage war, dem
Islam zu folgen. Denn der Islam hat sich mit Gewalt aufgezwungen. Als Beispiel
kann ich die einstigen Turkstaaten anführen. Die arabischen Heere, welche diese
Staaten in Mittelasien überfielen, haben die Türken mit äußerster Gewalt gezwungen, sich zum Islam zu bekennen. Da die Frauen gemäß islamischem Recht unter den Soldaten als Beutegut verteilt wurden, war es nicht schwer, sie zu unterwerfen. Solch brutale Gewalt erzeugt bei Menschen, die sich nicht wehren können, Selbstverachtung. Es sei denn, sie finden einen Weg, die ihnen aufgezwungene Ideologie oder Religion als richtig anzunehmen. Denn dann ist sie nicht aufgezwungen, sondern angenommen und das erscheint den Menschen, den Frauen leichter annehmbar.

Für Deutschland gibt es eine lange Geschichte. Als die Migranten damals als
Gastarbeiter kamen, kamen nicht nur Männer allein, sondern auch Tausende
von Frauen zu Siemens, Grundig, AEG, in die Fischfabriken im Norden etc. Damals
störte es keinen Mann, die „Ehre“ (also die Frau, wie sie Gläubige nennen) allein
in das Land der „Ungläubigen“ arbeiten fahren zu lassen. Aber nach der Krise von
1967 holten viele Frauen ihre Männer nach und da wurde eine falsche Politik
seitens der deutschen Ämter betrieben. Denn die Frauen traten ihre Arbeitserlaubnis ihren Männern ab und zogen sich in die Küche zurück. Das wurde von den Arbeitsämtern akzeptiert. Das heißt, die deutschen Ämter taten mit den ausländischen Frauen genau das, was sie bereits mit deutschen Frauen nach dem Krieg taten: Sie ebneten den Weg zur Unterdrückung der Frau und damit auch den Weg zur islamischen Lebensweise.

In den siebziger Jahren haben wir den ausländischen Frauen das angekreidet, wir
protestierten aber leider vergeblich.

MIZ: Was sind speziell die Argumente islamischer Frauen, warum sie den Islam aktiv mittragen, obwohl er sie als minderwertig gegenüber dem Mann betrachtet?
Toker: Die Antwort unterscheidet sich je nach Aufenthaltsort. In den islamisch regierten Ländern haben die Frauen gar keine andere Wahl. Sie kommen auf die
Welt, bedecken im Kindesalter ihre „Scham“ d.h. Haare, Körper etc. und ihnen
wird das, was sie als individuelle Person auszeichnet, gebrochen: ihr Wille. Glauben Sie mir, es ist einfacher, einen Diktator zu stürzen, als die Unterdrückungsmechanismen in sich, die Tabus in sich niederzureißen.

In den Ländern, in denen der Islam nicht als Gesetzesmacht herrscht, wie z.B.
in Deutschland oder in der Türkei, gibt es ein Bündel von Gründen. Zunächst sind
viele Frauen nicht wirklich informiert darüber, was der Islam für sie vorsieht. Viele
Hodschas, Imame erzählen nichts als Märchen. Dann kommt hinzu, dass Frauen
von Klein auf dazu erzogen werden, zu gehorchen und zu akzeptieren, dass sie ein
Geschlecht haben, das vielen Verboten und Geboten unterliegt, die insbesondere
sexueller Natur sind. Dies beginnt schon beim Wickeln von Babys – bei den Mädchen wird die Scham im Gegensatz zu den Jungs versteckt. Am deutlichsten ist es bei bildungsfernen Familien, bei denen die Geschlechtsorgane der Jungs sogar gelobt und gezeigt werden, während den Mädchen, schon wenn sie ihren Rock ein wenig hochheben, auf die Hände geschlagen wird. Auch wird den Frauen verschwiegen, was der Islam für sie vorsieht: Die Frau ist dort ein Wesen, das nur auf die Welt kommt, um dem Mann lästige Tätigkeiten wie Kochen, Putzen, Kinder Großziehen abzunehmen. Sie muss ihn sexuell befriedigen, damit er sich auf das Gebet konzentrieren kann, da dies für die Aufnahme ins Paradies erforderlich ist.

In den Gemeinden sind die Frauen zum Teil deshalb aktiv, weil ihnen dies einen
gewissen Freiraum innerhalb ihres kontrollierten, unterdrückten Umfelds verschafft. Eine Frau könnte nicht einfach irgendwohin gehen. Aber sobald die Moschee, die Glaubensgemeinschaft angegeben wird, hat sich ihr Radius an Bewegungsfreiheit ein wenig erweitert. Es gibt im Ruhrgebiet viele solche Gemeinden, wodurch die Frauen auch kleinere Fahrten in andere Städte machen können. Es gibt aber auch viele Nutten, die sich inzwischen verschleiern oder sich einen gewissen religiösen Touch geben, um sich in einem bestimmten Umfeld „bewegen“ zu können.

Unsere Aufgabe als vom Glauben befreite Frauen ist hierbei, die gläubigen
Frauen aufzuklären.

MIZ: In der Gemeindearbeit (Kirchen, Moscheen, Synagogen) gibt es viele aktive
Frauen und auch in Esoterikläden ist das Publikum meistens weiblich. Aktive
Atheistinnen gibt es dagegen nur wenige. Überhaupt ist der Anteil von Frauen in
Atheistenverbänden sehr gering. Haben Frauen eine besondere Affinität zum Religiösen oder wie erklären Sie sich diesen Sachverhalt?

Toker: Warum es in den atheistischen Verbänden weniger Frauen gibt, kann ich
nicht gänzlich beantworten, denn ich bin relativ neu in diesem Umfeld. Ich hoffe,
dass ich etwas zur Sprache bringen kann, ohne die Menschen zu erschrecken. Dabei möchte ich betonen, dass ich nicht darauf bestehe, unbedingt richtige Beobachtung gemacht zu haben: Im atheistischen Umfeld wird oft bis zum Exzess diskutiert. Um nichts sagen zu müssen, werden die Themen zerredet und die Themen sind meiner Meinung nicht immer wirklich wesentlich. Das ist ermüdend. Auf Englisch klingt es irgendwie besser: „It’s not really charming!“ Obwohl man von religiösen Tabus befreit ist, geht es in diesen Verbänden deshalb nicht humorvoller zu. Das ist schade. Um es auf den Punkt zu bringen: Humor, Phantasie, Liebe sind wichtige menschliche Eigenschaften, die nebst einer klaren Intelligenz ohne Umschweife vorhanden sein müssen, um Frauen gewinnen zu können.

Literatur zum Thema von Arzu Toker: Ilhan Arsel: „Frauen sind eure Äcker“. Aus dem Türkischen übersetzt und herausgegeben von Arzu Toker. Aschaffenburg 2012.