Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/24 | Geschrieben von Rebecca Schönenbach

Emanzipation in der Sackgasse

Reaktionen von Frauenorganisationen auf den 7. Oktober

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe und Terrorinstrument funktioniert in mehrfacher Hinsicht. Sie dehumanisiert und erniedrigt die Opfer und ihre Angehörigen, sie sorgt für langfristige Traumatisierung nicht nur der Überlebenden, sondern auch aller Angehörigen der angegriffenen Gruppe. Um diese Wirkung zu maximieren, haben die Terroristen des 7. Oktober 2023 ihr äußerst grausames Vorgehen selbst gefilmt und verbreitet. Womit aber selbst die Hamas und das Regime im Iran kaum rechnen konnten, ist die Schützenhilfe von Organisationen, sie sich selbst als 
feministisch bezeichnen.

Die sekundäre Traumatisierung trifft seitdem weltweit Jüdinnen. Auch in Deutschland berichten Jüdinnen über Schockstarre, Panikanfälle, „out of body“-Zustände und andere Symptome von Traumatisierung. Die Hamas hat ihren Angriff über mindestens zwei Jahre geplant, unterstützt von dem Terrorstaat Iran, der sexualisierte Gewalt seit Jahrzehnten strategisch gegen die eigene Bevölkerung und in Kriegsgebieten einsetzt. Terroristen sind keine ungebildeten Spontantäter, sondern kalkulieren die Wirkung ihrer Handlungen. Die systematischen, an mehreren Orten ausgeführten Taten sollten genau die Wirkung haben, die sie nun entfalten.

Die weltweit wichtigste Organisa­tion für Frauenrechte, die UN Women (Einheit der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der Frauen) hat fünf Monate gebraucht, bis sie die durch die Terroristen selbst dokumentierten Taten als glaubwürdig bestätigte. Im Bericht über die sexuellen Übergriffe werden dem Massaker der Hamas jedoch auch Behauptungen entgegenstellt, die von palästinensischen Frauen gegen Soldaten der israelischen Armee erhoben wurden. Die Behauptungen können, im Gegensatz zu den systematischen sexualisierten Gewalt-Taten durch die Hamas, nicht 
durch Videomaterial, forensische Spuren oder andere Beweise belegt werden, wurden jedoch dennoch als glaubwürdig bezeichnet. Damit wird bei palästinensischen Frauen der Grund­satz von #MeToo und anderen Kampagnen gegen sexualisierte Gewalt gewahrt, die unbedingte Solidarität mit den Opfern postulieren. Israelischen Frauen wurde dieser Grundsatz jedoch über fünf Monate verwehrt, trotz der erdrückenden Beweislage.

Die Gleichsetzung von angeblichen Taten durch israelische Soldaten mit den bewiesenen Vergehen von Terroristen hat aber noch einen anderen Zweck: Sie soll einerseits den einzigen demokratischen Rechtsstaat im Nahen Osten mit einer Terrororganisation auf eine Stufe stellen und damit delegitimieren und andererseits die klare Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern aufheben. Es ist ein exemplarisches „Aber“, das Verständnis für die Taten der Terroristen zeigt und damit die Schuld auf die Opfer verschiebt, die mit einem angeblich verbrecherischen Staat assoziiert werden.

Dieses „Aber“ ist eine Täter-Opfer-Umkehr, gegen die sich Frauen­rechts­bewegungen seit jeher gestellt haben: Aber die Frau hat Minirock getragen, aber sie war nachts allein unterwegs, aber sie war betrunken. Jede Emanzipationsbewegung musste sich gegen das Aber behaupten, um Frauen gleiche Rechte und Selbstbestimmung zu erkämpfen. Es hat Jahrhunderte gebraucht, bis in Europa gesellschaftlich und juristisch die Schuld bei Tätern verortet wurde, nicht bei Opfern.

Wer nach den bestialischen Taten der Hamas „Aber Israel“ sagt, gefährdet nicht nur die Legitimität des einzigen jüdischen Staates dieser Welt, sondern das Recht auf Unversehrtheit für alle Frauen. Egal was hinter dem Aber folgt, ein Aber macht jede Frau an jedem Ort und zu jeder Zeit zu einem legitimen Ziel. Denn Täter finden immer ein Aber.

Damit hat die Mehrheit der internationalen und deutschen Frauen­organi­sationen nicht nur die betroffenen israelischen Frauen sowie jüdischen Frauen weltweit im Stich gelassen, sondern auch das Tor für die Abschaffung von Gleichberechtigung selbst geöffnet. Ausgerechnet die Organisationen, die vorgeben, für Frauenrechte einzustehen, arbeiten aktiv an deren Abschaffung, indem sie wieder ein Aber bei Gewalt gegen Frauen einführen.

Ein Aber bedeutet immer ein Empowerment von Tätern statt von Opfern

Ausgerechnet bei Demonstrationen am Internationalen Frauentag wurde die Legitimierung von Angriffen auf Frauen besonders deutlich. Jüdische Frauen wurden in München, Brüssel und Paris von anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern physisch angegriffen und so gezwungen, sich in Sicherheit zu bringen. Dabei hatten die jüdischen Teilnehmerinnen in Paris sogar ausdrücklich auf israelische Symbole verzichtet, um „nicht zu provozieren“ und lediglich Bilder von den Opfern mit sich getragen. Doch wenn ein Aber schon statthaft ist, liegt die Schuld nur noch bei den Opfern, egal wie sehr diese versuchen, sich anzupassen. Ein Aber bedeutet immer ein Empowerment von Tätern statt von Opfern.

In einigen Analysen wurde das Schweigen, die „wir verurteilen die Taten grundsätzlich, aber“-Reaktionen sowie das ausdrückliche Negieren bis Feiern der Taten durch Frauenorganisationen mit den heute in akademischen Kreisen dominanten Theorien erklärt, beispielsweise intersektionalem Feminismus und Postkolonialismus. Der Kern dieser kompliziert klingenden Erklärungsansätze lässt sich einfach zusammenfassen: Diese Theorien ordnen Menschen Gruppen zu, die Gruppen werden nach ihrer ökonomischen Macht und ihrem vermeintlichen Einfluss hierarchisiert. Diejenigen, die den schwächeren Gruppen zugeordnet werden, sind strukturell Opfer, diejenigen aus den „mächtigeren“ Gruppen Täter. Individuelle Umstände der einzelnen Menschen treten in dieser Denke in den Hintergrund.

Israelis werden per se als weiß, ökonomisch überlegen und einflussreich dargestellt und damit automatisch den Tätern zugerechnet, auch wenn sie wie die israelischen Frauen am 7. Oktober deutlich zu den Opfern gehören, während Palästinenser immer Opfer sind. Der Schock des Massakers hätte bewirken müssen, dass die Kategorisierung hinterfragt wird. Dies hätte jedoch bedeutet, dass auch Frauenorganisationen ihre eigene jahrelang praktizierte Zuschreibung in Frage stellen und sich die Ursache der falschen Kategorisierung eingestehen müssten. Die Zuschreibung beruht auf uralten antisemitischen Stereotypen, dem Mythos von Juden als einer der finanzstärksten und einflussreichsten Gruppen der Welt, der heute auf den jüdischen Staat projiziert wird.
Offensichtlich waren die intersektio­nal orientierten Frauenrechts­orga­ni­sationen nicht bereit, sich der Tat­sache zu stellen, dass sie jahrelang antisemitischen Klischees aufgesessen sind, die nichts mit der Realität in Israel oder der von Jüdinnen und Juden weltweit zu tun haben. Sie hätten anerkennen müssen, dass israelische Frauen durch antisemitische und frauenfeindliche Täter angegriffen wurden und diese Taten ohne Wenn und Aber verurteilen müssen. Die Mehrheit der Frauenorganisationen weltweit hat sich jedoch für den Hass entschieden und damit der Aufklärung abgesagt. Denn Antisemitismus ist das Gegenteil von Emanzipation im Sinne des Erreichens von Freiheit und Gleichheit. Somit ist folgerichtig, was nun offen zu tage tritt: Die an intersektionalen und postkolonialen Theorien orientierten Frauenrechtsorganisationen haben sich mit ihrer Toleranz für das Befördern des Antisemitismus und gegen Emanzipation entschieden und mit ihrem „Aber“ alle Frauen erneut zur Zielscheibe gemacht.

Der Beitrag erschien zuerst im Humanistischen Presesdienst hpd.de