Prisma | Veröffentlicht in MIZ 2/22 | Geschrieben von Thomas Waschke

Was kann die Erweiterte Evolutionäre Synthese leisten?

Teil 6: Die Erweiterte Evolutionäre Synthese

In den letzten Jahren ist mit der Erweiterten Evolutionären Syn­these (ES) ein Konzept formuliert worden, das aus verschie­denen Gründen das Potenzial hat, die Rolle der Modernen Synthese (MS) zumindest als Standard in dem Sinn, dass mit deren Modellen die gesamte Evolution erklärt werden kann, infrage zu stellen. Die ES ist zwar aktuell noch in der Entwicklung begriffen, aber die wesent­lichen Konturen sind schon deutlich zu erkennen. In diesem Beitrag sollen die vier fachwissenschaftlichen Themenfelder, auf denen diese Theorie basiert, kurz vorgestellt werden.

Altenberg-16

Ein Kongress, der 2008 in Altenberg (Österreich) abgehalten wurde und an dem 16 Evolutionsforscher/innen (daher: Altenberg-16) teilnahmen, kann als Beginn der ES betrachtet werden. Diese Forscher/innen einte die Auffassung, dass die MS zumindest nicht vollständig sei und aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse erweitert werden müsse.

Nach einigen teils heftigen Diskus­sionen, organisierten die Vertreter/in­nen der ES schließlich 2019 ein von verschiedenen Organisationen fi­nan­ziell unterstütztes Projekt mit dem Namen Extended Evolutionary Synthesis, in dem sich 51 international bekannte Forscher/innen aus acht Forschungseinrichtungen zusammenschlossen. Sie wollten auf der einen Seite der ES eine klare Struktur geben (eine Aufgabe für Philosoph/innen und Wissenschaftstheoretiker/innen) und auf der anderen Seite die in ihr enthaltenen empirischen Aussagen durch Daten aus der Forschung besser untermauern. Im Rahmen dieses inzwischen abgeschlossenen Projekts entstanden bisher über 100 Publikationen.

Variationstendenz in der Entwicklung

Es ist zwar unstrittig, dass Mutationen in dem Sinn zufällig erfolgen, dass kein Zusammenhang mit den Selek­tionsbedingungen erkennbar ist. Da­raus folgt aber nicht, dass auch die dadurch verursachten Veränderungen der Organismen in dem Sinn zufällig sind, dass kleine Abweichungen in jeder beliebigen Richtung möglich sind, dass Organismen sozusagen ‘plastisch’ sind wie ein Stück Lehm, das beliebig verformt werden kann. Durch die Mechanismen, die mithilfe der vorliegenden genetischen Information letztlich einen Organismus aufbauen, werden bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten vorgegeben oder auch ausgeschlossen.

Als Beispiel seien die Buntbarsche aus zwei großen afrikanischen Seen (Malawi und Tanganjika, zwischen denen keine direkte Verbindung besteht) genannt. Diese Fische haben sich in beiden Seen aus jeweils einer Stammform, die vor langer Zeit in den See, in dem zunächst keine Buntbarsche lebten, gelangte, in Anpassung an verschiedene Lebens- und Ernährungsweisen zu sehr unterschiedlichen Arten entwickelt. Man findet in beiden Seen Formen, die sich an dieselbe Lebensweise, beispielsweise das Abweiden von Algen vom Untergrund, angepasst haben. Diese Fische aus unterschiedlichen Seen ähneln sich dann untereinander stärker als den anderen Formen aus dem gleichen See, obwohl sie mit diesen näher verwandt sind als mit den Fischen aus dem anderen See. Das bedeutet, dass aufgrund des Bauplans dieser Barsche bestimmte Formen relativ einfach entstehen können. Trotz der im Detail unterschiedlichen Verhältnisse in den Seen entstehen so sehr ähnliche Formen, auch wenn es denkbar wäre, dass die Anpassung auch hätte anders erfolgen können.
Auf der anderen Seite entstanden aus Buntbarschen in keinem See der Welt aal-förmige Formen oder große Raubfische, eben weil die Ent­wicklungspotenzen der Bunt­barsche diese Formen nicht ermöglichen. Das ist durchaus verwunderlich, wenn man die Formenfülle betrachtet, die aus dem Grundbauplan entstehen konnte.

Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass das Entwicklungssystem auf der einen Seite möglichen Veränderungen Grenzen setzt. Jede mögliche Evolution muss sozusagen in vorgegebenen Bahnen verlaufen. Sind Bahnen für eine konkrete Anpassung vorhanden, kann diese leicht und schnell entstehen. Falls nicht, ist diese schwer bis unmöglich zu bewerkstelligen.

Entwicklungsplastizität

Unter ‘Plastizität’ wird die Eigenschaft verstanden, dass sich Organismen, je nach Umwelteinflüssen, unterschiedlich entwickeln. Am deutlichsten ist das an eineiigen Zwillingen erkennbar. Werden diese Zwillinge bald nach der Geburt getrennt und wachsen in verschiedenen Umwelten auf, unterscheiden sie sich mehr oder weniger stark in ihren Eigenschaften, obwohl sie über die gleichen Gene verfügen. Je nach Umweltbedingungen entstehen daher trotz mehr oder weniger gleicher Gene unterschiedliche Formen.

Als Beispiel soll der Löwenzahn dienen. Wenn man Samen einer Pflanze im Hochland aussät, wachsen daraus kleine, flache Pflanzen. Aus den Samen derselben Pflanze wachsen im Tiefland aber große, hohe Pflanzen. Wenn man Samen einer Pflanze, die im Hochgebirge gewachsen ist, im Tiefland aussät, wachsen typische Tieflandpflanzen, aus Samen einer Tieflandpflanze im Hochgebirge hingegen Pflanzen in der typischen Gebirgsform.
Besonders beachtenswert ist, dass genetische Änderungen erfolgen können, welche eine zunächst nur plastische Eigenschaft im Erbgut festlegen. Wenn sich die Pflanzen viele Jahre im Hochland fortpflanzten, könnte es sein, dass irgendwann Samen auch im Tiefland zu der Hochgebirgsform auswachsen. In diesem Fall wäre eine genetische Assimilation erfolgt. Nur in diesem Fall wird dieses Merkmal für die Evolution bedeutsam, eben weil es nun erblich wurde. Letztlich folgt daraus, dass in diesem Fall Gene die Folge und nicht die Ursache von Anpassungen sind, weil die Anpassung zunächst als Plastizität vorhanden war und erst später in Form von Genen festgelegt wurde.

In vielen Fällen sind Organismen zur Ausbildung von Anpassungen in der Lage, die man üblicherweise gar nicht kennt, weil sie nur zum Vorschein kommen, wenn entsprechende Umweltbedingungen das erfordern. Falls das der Fall ist, kann es sehr schnell zur Ausbildung der erforderlichen Anpassungen in der gesamten Population kommen, weil keine neuen Mutationen erforderlich sind.

Diese Eigenschaften werden für eine Evolution aber nur relevant, wenn sie zusätzlich genetisch fixiert wurden, also erblich werden.

Inklusive Vererbung

Üblicherweise wird in der Biologie Vererbung (die Tatsache, dass die Nachkommen ihren Eltern ähnlich sehen) auf die Weitergabe von Genen, unabhängig von den Prozessen, die in der Entwicklung ablaufen, zurückgeführt. Wenn man den Begriff ‘Vererbung’ weiter fasst, kann man darunter jede Form der Informationsübertragung zwischen den Generationen verstehen, die letztlich dafür verantwortlich ist, welche Eigenschaften die Nachkommen auf­weisen. Diese erweiterte Form der Vererbung wird als ‘inklusive Ver­erbung’ bezeichnet, weil sie mehr einschließt als die Weitergabe von Genen auf den Chromosomen.

Die Eizellen, die meist zu den größten Zellen des Organismus zählen, enthalten, im Gegensatz zu den Samenzellen, nicht nur das eigentliche Erbmaterial in Form von DNA, sondern auch noch viele weitere Moleküle und Strukturen, welche die Entwicklung des Embryos beeinflussen können. So stammen beispielsweise alle Mitochondrien des Embryos von der Mutter.

Die meisten Zellen des Körpers enthalten identische DNA, obwohl sie vollkommen unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Unterschiedliche Eigenschaften werden durch Anlagerung von Signal­molekülen an die DNA erreicht, welche den Aufbau der DNA nicht verändern. So werden Gene je nach Bedarf an- und abgeschaltet. Da diese Veränderungen sozusagen auf der Oberfläche der DNA erfolgen, werden sie als epigenetisch bezeichnet. Diese epigenetischen Marker werden üblicherweise gelöscht, wenn Geschlechtszellen gebildet werden. Es gibt aber immer wieder Fälle, in denen diese Löschung nur unvollständig erfolgt. In diesem Fall haben die Nachkommen trotz identischer DNA unterschiedliche Eigenschaften, je nachdem, welche Marker (nicht) gelöscht wurden.

Mögliche Einflüsse auf die Ent­wicklung gehen aber weit über das hinaus, was in Zellen und deren Erbmaterial geschieht. Mütter übertragen auch Mikroorganismen, die sie in und auf sich tragen, auf die Nachkommen, darunter sowohl nützliche Symbionten als auch Krankheitserreger. Letztlich beeinflussen auch die Verhältnisse in der Umwelt, darunter natürlich auch kulturelle Einflüsse, die Eigenschaften der Nachkommen, obwohl diese nichts mit Erbmolekülen zu tun haben.

Diese (bei weitem nicht vollständige) Auflistung zeigt, dass die Gene, die in Form von DNA übertragen werden, zwar eine wichtige, aber eben nicht die alleinige Rolle bei der Vererbung spielen.

Nischenkonstruktion

Unter der ökologischen Nische eines Organismus versteht man weniger einen speziellen Ort, an dem dieser lebt, sondern das Gesamt aller Einwirkungen durch die belebte und unbelebte Natur.

Lebewesen sind der Umwelt aber nicht nur passiv ausgesetzt, sie verändern diese auch aktiv. Beispiele wären Biber, die Dämme bauen, das so aufgestaute Wasser bildet einen neuen Lebensraum, nicht nur für die Biber. Derartige Wirkungen können auch global sein, der Sauerstoff in der Luft ist beispielsweise ein Abfallprodukt der Fotosynthese. Das Vorhandensein von Sauerstoff ermöglichte dann eine Form des Stoffwechsels, bei dem die Nahrung im Körper buchstäblich verbrannt wird, wodurch viel mehr Energie gewonnen werden kann als durch andere Stoffwechselformen.

Hervorzuheben ist, dass die Ni­schenkonstruktion von der ES als ein wichtiger Evolutionsfaktor gesehen wird. Dadurch rückt auch die Rolle des Organismus, der in Form einer Rück­kopplung seine eigene Evolution mitbestimmt, in den Vordergrund.

Zusätzlich besteht hier ein An­satz­punkt für die Verbindung zwischen der Evolution in der Natur und im Bereich des Menschen. Kein Organismus hat es bisher geschafft, seine Umwelt aktiv so umzugestalten, wie das der Mensch getan hat und tut, was dazu führte, dass sich der Mensch anders entwickelt als seine Mitlebewesen.

Ausblick

Hervorzuheben ist, dass alle oben genannten Überlegungen auf Beobachtungen oder auch Ergebnissen von Experimenten beruhen, die meist nicht bestritten werden. In einigen Fällen, beispielsweise der Frage, wie häufig Plastizität durch dauerhafte Umwelteinflüsse genetisch fixiert werden kann, findet die Diskussion auf der Fakten-Ebene statt. Viel häufiger sind Diskussionen über die Bedeutung der Befunde für die Evolution bzw. die MS. Mit dieser Thematik wird sich der nächste Teil der Serie befassen.