Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/22 | Geschrieben von Rahila Gupta

In Sachen Salman Rushdie geht es nicht nur um Meinungsfreiheit

Das Attentat auf Salman Rushdie zeigt: Der religiöse Fundamen­talismus ist auf dem Vormarsch. In Großbritannien müssen wir ihn bekämpfen, indem wir uns die Spannungen in unseren eigenen Comunities eingestehen.

Salman Rushdie ist nur knapp dem Mordanschlag des 24-jährigen Hadi Matar entgangen. Wir wissen noch nicht genau, aus welchen Motiven heraus der Angreifer gehandelt hat. Außer Zweifel steht jedoch, dass Matar von blinder Wut getrieben wurde, als er auf die Bühne sprang – vor den Augen eines Publikums, das gekommen war, um Rushdie sprechen zu hören, ironischerweise darüber, wie wichtig es ist, die Meinungsfreiheit zu schützen, und dass es notwendig ist, dass die USA Schriftstellern im Exil Asyl gewähren. Dass Matar in den wenigen Sekunden, bevor er überwältigt werden konnte, mehrere Male auf Rushie einstach, Hals, Bauch und Oberschenkel traf sowie die Leber und ein Auge verletzte, spricht für eine schockierende Raserei.

Aus welchem Grund war Matar so aufgebracht? In einem Interview mit der New York Post sagte Matar kürzlich, Rushdie sei „jemand, der den Islam angegriffen hat, er hat ihren Glauben, ihre Glaubenssätze angegriffen“. Ein Jahrzehnt bevor Matar geboren wurde, veröffentlichte Rushdie ein Buch: Die satanischen Verse. Der Roman wurde von einigen gläubigen Muslimen als blasphemische Darstellung des Propheten Mohammed und des Islam empfunden. Ein Jahr später, 1989, erließ der iranische Ajatollah Ruhollah Khomeini eine Fatwa, die von Muslimen forderte, den Autor zu töten. Die iranische Regierung zog das Todesurteil 1998 zurück, aber die Gefahr eines Anschlags bestimmte Rushdies Leben weiterhin, auch wenn es schien, dass die Bedrohung in den letzten Jahren zurückgegangen sei.

Wir haben etwas zu verlieren, und damit meine ich nicht Salman Rushdie, der sich jetzt von seinen Verletzungen erholt, von denen es heißt, sie würden „sein Leben verändern“. Es geht auch nicht nur um das Recht auf freie Meinungsäußerung, das für manche nicht mehr ist als ein liberaler Anspruch, der die Machtverhältnisse, die den Zugang zu dieser Freiheit bestimmen, außer Acht lässt. Es geht um das Recht, von religiösen Orthodoxien abzuweichen. Rushdie hat dafür bezahlen müssen, dass er sich weigerte zu zensieren, was er über die Religion des Islams geschrieben hatte. Wir sollten auch nicht vergessen, dass in vielen Communities Frauen, junge Menschen und Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft die Hauptleidtragenden einer extremen Religiosität sind.

Den religiösen Extremismus innerhalb der Communities bekämpfen

Vor vierunddreißig Jahren, als die Fatwa gegen Rushdie verkündet wurde, drehte sich alles um die Meinungsfreiheit des Schriftstellers. Die Southall Black Sisters (SBS), der ich im selben Jahr beitrat, war eine der ersten Frauengruppen, welche die Bedeutung dieser Fatwa für die Rechte der Frauen erkannte. Die Entwicklungen vor Ort in London hatten uns dafür sensibilisiert. Immer mehr Frauen, die sich an das Zentrum wandten, beklagten sich über religiösen – und nicht mehr nur kulturellen – Druck, sich anzupassen. Sikh- und muslimische Gruppen gerieten aneinander und beschuldigten sich gegenseitig, ihre Frauen zu stehlen, um sie zu bekehren. Die zuvor kosmopolitisch geprägten Straßen von Southall im Westen Londons waren nun während religiöser Feste durch Prozessionen verstopft, und sowohl der khalistanische (Sikh) als auch der islamische Fundamentalismus waren auf dem Vormarsch.

Wir spürten, dass in der Debatte eine dritte Stimme fehlte. Wir befürworteten Rushdies Recht zu schreiben voll und ganz, waren aber gleichzeitig der Meinung, dass die vom liberalen Establishment vorgebrachten Argumente geprägt waren von der rassistischen Vorstellung der Rückständigkeit der Muslime in Bradford, einer der größten muslimischen Gemeinden im Vereinigten Königreich (der Bradford Council of Mosques hatte die Verbrennung von Exemplaren der Satanischen Verse organisiert). Wir wollten dem gegen Muslime gerichteten Rassismus entgegentreten, aber auch die fundamentalistischen Tendenzen in unseren Communities bekämpfen.

Dies schien eine differenzierte und logische Position zu sein. Aber wir wurden von der so genannten säkularen antirassistischen Linken, unseren früheren Genossen, entschieden kritisiert. Ich erinnere mich, dass ich eine befreundete säkulare pakistanische Schriftstellerin gebeten hatte, als Dolmetscherin für das Treffen zu fungieren, das wir zur Unterstützung von Rushdie organisiert hatten, um die Diskussionen in Urdu zu übersetzen. Zu meiner Überraschung gab es darüber einen heftigen Streit. Sie vertrat im Wesentlichen den Standpunkt, mit dem wir uns all die Jahre bis zum Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Jahr 2015 und darüber hinaus immer wieder konfrontiert sahen: dass die Muslime eine unterdrückte Minderheit seien, und dass es jetzt nicht an der Zeit sei, ihnen irgendwelche Defizite vorzuhalten. In einer etwas anderen Form wurde uns dieses Argument schon bei der Gründung der SBS entgegengehalten. Unsere Kampagne gegen häusliche Gewalt stieß auf Widerstand, der damit begründet wurde, dass wir die rassistische „Gast“-Gesellschaft auf eine Schattenseite der asiatischen Community aufmerksam machen würden. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Gründung der Women against Fundamentalism

Wir wollten mit unserer Arbeit gegen den Fundamentalismus vorankommen, ohne dem gegen Muslime gerichteten Rassismus Vorschub zu leisten. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, schlugen wir eine Kampagne vor, die sich gegen alle Fundamentalismen in allen Religionen richtete. Tatsächlich war das Treffen zur Unterstützung von Rushdie im Jahr 1989 die Geburtsstunde von Women against Fundamentalism (WAF). In der Gruppe kamen verschiedene Frauen zusammen, darunter Hindu-Frauen, die sich gegen Hindutva wandten, muslimische Frauen gegen Islamismus, jüdische Frauen gegen Zionismus, irische Frauen gegen Katholizismus und Sikh-Frauen gegen Sikh-Fundamentalismus. Das waren die Stimmen der Dissidentinnen, und ihre intime Kenntnis der Traditionen, die ihre Freiheiten beschnitten, verlieh der Kampagne Authentizität.

Diese Authentizität brachte uns auch in Konflikt mit der „Identitäts­politik“ – eine Tendenz, die seitdem zugenommen hat und heute noch viel schlimmer ist. Wenn Medien wegen einer Stellungnahme zur Rushdie-Affäre an die WAF herantraten, wurden wir immer gebeten, unsere muslimischen Mitglieder zu schicken. Als wir öffentlich kritisierten, dass Hindus aus London Goldbarren an Hindu-Nationalisten spendeten, interessierten sich die Medien nicht dafür. Das Hauptaugenmerk lag auf Rushdie, und nur darüber wollten sie mit uns sprechen. Das führte dazu, dass die WAF zu Unrecht mit antimuslimischen Kampagnen in Verbindung gebracht wurde. Jeder Hinweis auf das ungleiche Interesse der Medien an unseren Kampagnen wurde mit Kommentaren gekontert wie: Wir hätten wissen müssen, dass die Medien uns manipulieren würden. Aber auch wenn wir das vorausgesehen hätten, hätte uns das nicht davon abgehalten, die Verbindung zwischen den Kräften, die sich gegen Rushdie stellten, und den Kräften, die die Freiheiten der Frauen einschränkten, herzustellen.

Die Rushdie-Affäre brachte die politischen Frontlinien der damaligen Zeit durcheinander. Nichts veranschaulicht dies besser als die WAF-Demo von 1989. Wir versammelten uns auf der Grünfläche gegenüber dem Parlament, um gegen die jungen asiatischen Männer aus Bradford zu protestieren, die für ein Verbot des Buches demonstrierten. Es waren Männer, mit denen wir in früheren Jahren vielleicht zusammen marschiert wären, um gegen polizeilichen oder staatlichen Rassismus zu protestieren. Ohne dass wir es wussten, marschierte auch die British National Front aus der entgegengesetzten Rich­tung auf. Vermutlich wollten sie nicht Rushdie unterstützen, sondern nur einer Versammlung von asiatischen Einwanderern mit einer aggressiven Haltung entgegentreten. Sobald die beiden Gruppen die WAF entdeckt hatten, verloren die Männer das Interesse aneinander und ihr Hass konzentrierte sich auf die Frauen, die sie zu beschimpfen begannen und denen sie ihre Plakate zu entreißen versuchten. An wen wandten sich die Frauen, um Schutz zu erhalten? An die Polizei.

Wir brauchen den Mut, uns unseren Widersprüchen zu stellen

Der gefährliche Aufstieg des religiösen Fundamentalismus ist überall auf der Welt zu beobachten. Die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade in den USA war ein Sieg für die christliche Rechte, die seit Jahren darauf hinarbeitet, die Rechtsprechung zu kontrollieren. In Indien haben hinduistische „Kuh“-Wächter muslimische Viehhändler im Namen des Schutzes der im Hinduismus als heilig angesehenen Kuh getötet und muslimische Männer verprügelt, denen „Liebesdschihad“ vorgeworfen wurde – was bedeutet, dass sie hinduistische Frauen zur Heirat „verführt“ haben. In Großbritannien kämpfen die Southall Black Sisters und One Law for All an vielen Fronten. Sie haben sich dagegen gewehrt, als Universitäten versuchten, die Zuhörerschaft nach Geschlechtern zu trennen, wenn religiöse Redner dies verlangten. Sie haben sich gegen informelle Scharia-Gerichte gewandt, die für Frauen eine Rechtsprechung zweiter Klasse mit sich bringen, und sie haben erreicht, dass die Law Society [ein unabhängiger Berufsverband von Anwälten] ihre scharia-konformen Ratschläge zur Abfassung von Testamenten zurückgezogen hat.

Die WAF hat sich 2012 aufgelöst. Einige der daran beteiligten Frauen gründeten 2016 Feminist Dissent, eine jährlich erscheinende Zeitschrift mit dem Schwerpunkt „Gender, Funda­mentalismus und damit zusammenhängende gesellschaftspolitische Themen“.

Ich würde behaupten, dass der Boden, auf dem diese Diskussion geführt wird, heute noch rutschiger ist als im Jahr 1989, als die Auseinandersetzung um Salman Rushdie begann. Wir leben in einer hyperempfindlichen Zeit, in der jede Infragestellung religiöser Überzeugungen mit der Begründung abgewehrt werden kann, dass sie eine Beleidigung darstelle. Aber es gibt kein gesetzlich verankertes „Recht, nicht beleidigt zu werden“.

Aber wir können nicht weiter die andere Wange hinhalten und sagen, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt. Janusköpfig müssen wir in alle Rich­tungen schauen und uns den widersprüchlichen Kräften, die sich gegen uns richten, stellen.

Im Original unter dem Titel „The Rushdie affair is not a simple matter of free speech“ erschienen im New Humanist (https://newhumanist.org.uk) im August 2022. Übersetzung und Abdruck mit freundicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion.