Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 4/11 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Und sie bewegt sich doch…

In die Debatte um das kirchliche Arbeitsrecht ist Bewegung gekommen

Es ist ein Kennzeichen verknöcherter Systeme, wenn ihre Repräsentanten im sicheren Gefühl der Macht gesellschaftliche Veränderungen nicht wahrnehmen und meinen, an überkommenen Privilegien festhalten zu können. Das Verhalten beider Kirchen, wenn die Sprache auf soziale Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft kommt, ist dafür ein beeindruckendes Beispiel. Obwohl sie nicht einmal mehr zwei Drittel der in Deutschland lebenden Bevölkerung unter ihrem Dach vereinigen, halten sie trotzdem unbeirrbar am „Tendenzschutz“ und am „Dritten Weg“ fest. Doch der Druck, die diskriminierenden Bestimmungen fallenzulassen, wächst.

Eigentlich ist es offensichtlich, daß in sozialen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft gegen Grundrechte verstoßen wird. Der „Dritte Weg“ leugnet den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und enthält den Beschäftigten das Streikrecht vor; die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes finden dort ebensowenig Anwendung wie das Personalvertretungsgesetz. Stattdessen sollen Konflikte in der „Dienstgemeinschaft“ zwischen „Dienstgeber“ und „Dienstnehmern“ von einer paritätisch besetzten Kommission am Verhandlungstisch gelöst werden.1 Über den „Tendenzschutz“ greift die Kirche tief ins Leben ihrer Mitarbeiter ein, indem sie auch für das Privatleben die
Einhaltung ihrer moralischen Vorstellungen vorschreibt; ein Kirchenaustritt oder
die Heirat mit einem geschiedenen Partner können dann zum Kündigungsgrund
werden.

Trotzdem gab es jahrzehntelang kaum Bestrebungen in der Politik, diesen Zustand zu ändern. Bündnis 90/Die Grünen hatte in den 1990er Jahren verschiedentlich gefordert, daß für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Kirchen und Religionsgesellschaften das allgemeine Arbeits- und Sozialrecht gelten soll, ähnlich hatte sich im Wahljahr 1994 die FDP positioniert2 und auch im Grundsatzprogramm der SPD findet sich eine entsprechende Forderung. Doch es blieb bei derart allgemeinen Bekundungen, selbst unter der rot-grünen Bundesregierung wurde das Thema nicht auf die Tagesordnung gesetzt. (Entsprechend fehlte die einschlägige Passage auch im sozialdemokratischen Wahlprogramm 2002.3)

Für diese Zurückhaltung der Parteien mag es viele Gründe gegeben haben; die
Lobbyarbeit kirchennaher Parteikreise wird nicht ohne Einfluß geblieben sein,
die aggressive Rhetorik, mit der die Kirchen auf jegliche Forderung nach Veränderung des Status quo reagierten, hat wohl auch Eindruck hinterlassen. Vor allem aber funktionierte das System des „Dritten Weges“ über Jahre hinweg, die kirchlichen Sozialeinrichtungen übernahmen einfach die Abschlüsse des Öffentlichen Dienstes – Ergebnisse, mit denen die Mitarbeiter leben konnten. Und die Konfessionslosen wurden lange Zeit nicht als politischer Faktor wahrgenommen.

Doch dann führte der zunehmende Kostendruck (vor allem, aber nicht nur in
Krankenhäusern) dazu, daß in der Branche nicht mehr über die Höhe der Lohnsteigerung, sondern über Arbeitszeitverlängerung und die Streichung von Zulagen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld verhandelt wurde. Auch kirchliche Einrichtungen reagierten in der Folgezeit mit Lohndumping, Leiharbeit und der Ausla-gerung einzelner Arbeitsbereiche – womit sichtbar wurde, daß auch in der „Dienstgemeinschaft“ massive Interessenkonflikte bestehen.

Es war die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die sich vor etwa zehn Jahren des
Themas annahm. Zunächst bemühte sich die Gewerkschaft, den Organisationsgrad in den Betrieben zu erhöhen, es folgten Versuche, die „Dienstgeber“ zu Tarifverhandlungen zu zwingen. Heute bildet die Arbeitssituation in kirchlich getragenen Sozialeinrichtungen einen der Schwerpunkte der ver.di-Aktivitäten. Die Kampagne „Streikrecht ist Grundrecht“ soll Tarifverträge und mehr Demokratie in Betrieben der Diakonie bringen, eine Webseite informiert über die Auseinandersetzungen.4 Und als die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Anfang November in Magdeburg über das kirchliche Arbeitsrecht beriet, organisierte ver.di eine Demonstration mit 1.500 Teilnehmern.

Signale, die in der Kirche zwar gehört, aber offenbar nicht wirklich verstanden
werden. Schon im Vorfeld der Synode hatte die EKD verlauten lassen, es gebe
„keine bessere Alternative für die besonderen Anforderungen in Kirche und Diakonie“. Die Diakonie sei eine „Lebens- und Wesensäußerung“ der Kirche, deshalb müsse das kirchliche Arbeitsrecht „voll zur Geltung kommen“ – denn: „Wo Kirche drauf steht, muß auch Kirche drin sein“.5 Dementsprechend beschloß die Synode auch ein Festhalten am kirchlichen Sonderweg, an Streikverbot und am Verzicht auf Tarifverträge. Lediglich einige Verbesserungen, was die Stellung von Mitarbeitervertretern angeht, wurden auf den Weg gebracht.

Auf die entscheidenden Fragen gab die Synode keine Antwort. Denn die Aussage
„Wo Kirche drauf steht, muß auch Kirche drin sein“ erscheint recht vollmundig angesichts der Tatsache, daß in einem von der Diakonie betriebenen Krankenhaus oder Altenheim „Null“ Kirche drin ist, wenn der Blick auf die Finanzierung gerichtet wird. Und was die „besonderen Anforderungen“ an eine in diesen Einrichtungen arbeitende Chirurgin oder Altenpflegerin ist bzw. worin sich diese von den Anforderungen an Kolleginnen in Krankenhäusern oder Altenheimen in kommunaler Trägerschaft unterscheiden, wäre ebenfalls zu erörtern. Realistisch erscheint da die Einschätzung des Ärzteblattes, das illusionslos feststellt, „der Klinikalltag heute [lasse] kaum noch Raum für
den Dienst am Nächsten“.6

Natürlich sind diese Fragen nicht neu, denn die Probleme kommen durch die aktuelle Entwicklung zwar verstärkt ans Licht, die Ursachen aber liegen in der Konstruktion des kirchlichen Arbeitsrechts, im exorbitanten Geltungsbereich der kirchlichen Selbstverwaltung und der völlig einseitigen Abwägung zwischen dem Recht der Kirchen und dem Recht der Bürgerinnen und Bürger, die deren soziale Einrichtungen zwar finanzieren, aber dort nicht arbeiten dürfen. Doch mittlerweile werden diese Fragen nicht nur von kirchenkritischer Seite aufgeworfen. Neben ver.di hat auch der Marburger Bund das kirchliche Arbeitsrecht in Frage gestellt, in der Fachpresse ebenso wie in der Tagespresse erscheinen kritische Artikel; das Thema hat die Tagesschau erreicht. Und die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte werfen, obwohl sie das kirchliche Arbeitsrecht nicht grundsätzlich hinterfragen, weitergehende Fragen auf (etwa ob wirklich alle Mitarbeiter als Tendenzträger begriffen werden können).7 In den Kirchen wird diese Entwicklung der Diskussion offenbar nicht wahrgenommen. Und so antworten sie im Tonfall einer Zeit, als das Bild kirchlicher Sozialeinrichtungen noch von Nonnen und Diakonissen geprägt war.

Selbst in den Parteien gibt es mittlerweile Bestrebungen, das kirchliche Arbeitsrecht auf die Tagesordnung zu setzen. Die Partei Die Linke steht seit langem hinter den Forderungen der Gewerkschaft, zuletzt hat die Bundesdelegiertenkonferenz der Arbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft Anfang Dezember ihre Unterstützung bekundet. Der Bundesparteitag der Piratenpartei hat in der Diskussion über ein neues Parteiprogramm einen Antrag zur Trennung von Staat und Kirche verabschiedet, der eine Passage zum Abbau von „Privilegien ... beim Betrieb von sozialen Einrichungen“ enthält. Eine Woche zuvor hatten bereits die Grünen auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz den Antrag „Demokratischer Aufbruch in Zeiten der Krise“ beschlossen; in diesem wird die Auffassung vertreten, „dass das Streikrecht, die Mitbestimmungsrechte, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das kollektive Arbeitsrecht uneingeschränkt auch bei kirchlichen Dienstgebern gelten soll“. „Unser Ziel“, so heißt es weiter, „ist es, den kirchlichen Sonderweg grundsätzlich auf den engeren Bereich der Verkündung beschränken“. Und selbst aus der SPD ist zu vernehmen, daß eine Veränderung des kirchlichen Arbeitsrechts angestrebt werde.

Die EKD hat insofern reagiert, als ihr Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider darauf hinwies, daß „schwarze Schafe“ unter den diakonischen Einrichtungen, die „ersetzende Leiharbeit“ praktizieren, gegebenenfalls mit Rauswurf und „Entkirchlichung“ zu rechnen hätten. Ein bißchen bewegt sie sich also, die Kirche, aber erst das nächste Jahr wird zeigen, wie weit die Bereitschaft, Privilegien aufzugeben, wirklich geht.

Anmerkungen:

1 Vgl. Carsten Frerk: Caritas und Diakonie in Deutschland. Aschaffenburg 2005, S. 115-121.
2 Vgl. Ein überfälliger Schritt, in: MIZ 4/94, S. 3-5 und S. 11.
3 Vgl. Gunnar Schedel: Wer seine Stimme abgibt..., in: MIZ 3/02, S. 6f.
4 http://www.streikrecht-ist-grundrecht.de/
5 EKD-Synode berät über kirchliches Arbeitsrecht, http://www.ekd.de/synode2011/presse/pm277 (alle Zugriffe vom 17.12.2011).
6 Jens Flintrop: Kirchliches Arbeitsrecht: Nicht mehr zeitgemäß, in: Deutsches Ärzteblatt 108/2011, A-2445.
7 Vgl. Gerhard Czermak: Menschenrechtsgerichtshof und kirchliche Arbeitsverhältnisse – ein Stück Hoffnung, in: MIZ 4/10, S. 17-19.

Informationen

Sozialeinrichtungen sind keine kirchlichen Einrichtungen! Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) wird 2012 eine Kampagne zum kirchlichen Arbeitsrecht durchführen. Im Zentrum steht die Forderung, dass auch in Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft die branchenüblichen Arbeitnehmerrechte zur Anwendung kommen müssen. Bislang gelten dort alle
Beschäftigten – vom Betriebsleiter über die Kindergärtnerin oder den
Pfleger bis hin zum Hausmeister oder zur Reinigungskraft – als „Tendenzträger“.
Denn nach Auffassung der Kirchen gehören all diese Tätigkeiten zu
ihrem Verkündigungsauftrag („Verkündigung durch die helfende Tat am
Nächsten“) und Entscheidungen höchster deutscher Gerichte stützen diese
sehr weit gehende Interpretation kirchlicher Selbstverwaltung. In der Praxis
heißt das, dass Konfessionslose in diesen Einrichtungen nicht angestellt werden, dass die Beschäftigten nicht aus der Kirche austreten können und in
ihrer freien Meinungsäußerung eingeschränkt sind.

Der IBKA will sich besonders für das Recht auf Religionsfreiheit einsetzen,
denn in einigen Landstrichen gibt es Berufsfelder im sozialen oder pädagogischen Bereich, in denen Konfessionslose keine Anstellung finden können, weil es keine weltanschaulich neutralen Träger gibt. Zunächst soll diese
spezifische Betroffenheit von Konfessionslosen in die Debatte eingebracht
werden, da dieser Punkt derzeit in der öffentlichen Wahrnehmung hinter
Aspekten wie Streikrecht oder Betriebsrat zurücksteht. In einem zweiten
Schritt soll bis zum Sommer eine Kampagne entwickelt werden, die sich gegen
die Übergabe kommunaler Einrichtungen in kirchliche Trägerschaft wendet und dem Protest vor Ort Argumente an die Hand gibt, um Gehör bei Entscheidungsträgern zu finden.