Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/21 | Geschrieben von Nicole Thies

Liberté, Égalité, Laïcité!?!

Der Laizismus und säkulare Gesell­schaftsentwürfe sind in den letzten Jahren in Verruf geraten. Wer dafür eintritt, sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, andere in der Entfaltung ihrer religiösen Identität zu behindern, sie also zu diskriminieren. Konkret bezogen auf den Alltag und das Zusammenleben geht es um Fragen wie: Religion an Schulen und Uni­versitäten, Neutralität von staatlichen Einrichtungen und deren Angestellte, den „Kopftuch“-Streit, Teilhabe am Schwimmunterricht oder Aufteilung nach Geschlechtern, die Anerkennung von Minderheiten und die Durchsetzung von Rechten einzelner Gruppen.

Blickt man hinter die Kulissen sind es zwei Lager, die sich – mittlerweile feindlich – gegenüberstehen: universalistische vs. partikularistische Standpunkte. Welche verkappt religiösen und auto­ri­tären Züge die Gegner_innen der fran­zösischen Laizität dabei ins Feld führen, zeigt der Beitrag „Strohmann-Argumente“ – eine Antwort auf das Buch der Historikerin Joan Wallach Scott, Der neue und alte französische Säkularismus. Insbesondere sind es die Frauenrechte und Selbstbestimmung, die ein Hauptschlachtfeld ausmachen. Der Ansatz bzw. die von Scott vorgetragenen Argumente machen deutlich: Universalismus und Säkularismus sollen abgelöst werden – zum Vorteil von religiösen und rückwärtsgewandten Gruppierungen, die (aus Erfahrung) gern und umfangreich Privilegien und Sonderbehandlungen einfordern bzw. erweitert sehen wollen.

Das Titelthema befasst sich kritisch mit dem „Gesetz zur Stärkung republikanischer Prinzipien“, das im August diesen Jahres in Frankreich begleitet von kontroversen Diskussionen beschlossen wurde. Bernard Schmid geht in seinem Beitrag auf die Schwächen des Gesetzes ein, das vorrangig der Islamismusbekämpfung dienen sollte. Aber das Gesetz stärkt staatliche Eingriffe und schwächt zivilgesellschaftliche Strukturen. Auch die Möglichkeit, Homeschooling einzuschränken, erweist sich als zweischneidiges Schwert.

Diese Problematik kennt auch die deutsche Rechtslage. Die allgemeine Schulpflicht für Kinder auszusetzen, die massivem Mobbing oder Gewalt ausgesetzt sind, stellt Sozialarbeiter_innen, aber auch Sozial- und Jugendämter, regelmäßig vor Herausforderungen. Insbesondere in Fällen von häuslicher Gewalt oder Stalking – immer mehr junge Menschen sind von Gewalt im Netz betroffen – sind Anonymisierung und Homeschooling bzw. Schulwechsel eine entscheidende Maßnahme, um bedrohliche Situationen für Leib und Leben abzuwenden. Denn es geht den Täter_innen um Kontrolle der sozialen Lebenssituation, um Kontrolle als vermeintliche Nähe zu erzeugen. Gerade wenn sich eine Strafverfolgung als aussichtslos erweist, bietet Homeschooling eine Möglichkeit zur Deeskalation, die aber für schulpflichtige Kinder immer das Herausnehmen aus der sozialen Situation (auch der schulischen) bedeutet.
Weiterhin wirft die Analyse der französischen Gesetzgebung wichtige Fragen für die Vorgehensweise in Bezug auf die deutsche Situation auf. Wollen wir für einen ähnlichen „Staatssäkularismus“ argumentieren? Ist es sinnvoll, Maßnahmen einzuführen, die zwar Rahmenbedingungen setzen, aber gleichzeitig auch staatliche Machtansprüche festigen und Restriktion gegen Einzelne bzw. bestimmte Interessens- und Lobby­organisationen befördern? Macht sich der französische Präsident Emmanuel Macron die laïcité zunutze? Setzt er sie als Steigbügel für eine „Law-and-Order“-Politik ein und reproduziert so das Selbstbild religiöser Gemeinschaften, dass sie vom Staat diskriminiert werden? Was zu einer noch stärkeren Abschottung führen könnte und dann das Gegenteil des ursprünglich formulierten Anliegens erreichen würde.

Und stellt sich nicht grundsätzlich die Frage, ob Laizität staatlich und gesetzlich vorgeschrieben werden kann? Welche politischen Anliegen, welche Handhabe und Maßnahmen sind noch realistisch – gesetzt den Fall, dass ein Staat kulturelle Einrichtungen enger überwacht und Verstöße sanktioniert?

Wenn Laizität als Haltung bzw. Position verstanden wird und nicht als Gesetzestext: Dürfte es doch plausibler sein, Menschen dahin zu bilden und zu bestärken, von der Wahrnehmung ihrer Bürger_innenrechte Gebrauch zu machen. Gerade weil der Einfluss von religiösen Werten in europäischen Gemeinschaften tendenziell zurückgeht (obgleich er sich gern in einzelnen, unterdrückten oder abgehängten ‘Gruppen’ radikaler denn je zeigt), sind diese Auflösungserscheinungen wichtiger Garant für Autoritätsverlust. Stellt sich die Frage, ob der Staat durch Kontrolle diese Lücke schließen sollte? Oder ob aktiv gesellschaftliches, bürgerschaftliches Engagement dem vorgezogen werden sollte, welches staatlich und selbstverständlich säkular durch entsprechende Projekte und Ausschreibungen gefördert und unterstützt wird.

Dass religiöse Radikalisierungen oftmals mit sozialer, soziokulturel­ler, ökonomischer und kultureller Benachteiligung sowie offenen Aner­kennungsfragen (gleiche Mög­lichkeiten und Rechten für alle) einhergehen, ist vielfach belegt – nicht nur innerhalb der französischen Gesellschaft. Macrons Vorstoß und die feministische Perspektive von Scott treffen sich in dem Punkt, dass sie die meisten Personen eher von der Idee des Universalismus abschrecken, und weitaus schlimmer, es spielt den Rechten in die Hände.