Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/21 | Geschrieben von Bernard Schmid

Wie Universalismus schief geht

Ein Gesetz soll der französischen Republik Respekt sichern

Kant bestimmt Aufklärung in seinem berühmt gewordenen Text Was ist Aufklärung? als Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Aus dieser Bestimmung folgen Fragen. Alle Menschen sind vernünftige Wesen, d.h. sie können durch öffentliches Räsonieren allgemeine Einsichten miteinander teilen, sich mündig äußern, gemeinsam ihre Vernunft gebrauchen und sich verständig verhalten. Warum sind die Menschen in der Vergangenheit unmündig gewesen? Warum äußern und verhalten sie sich jetzt nicht mündig?

Vor kurzem trat in Frankreich das ursprünglich als „Anti-Separaratismus-Gesetz“ bezeichnete Gesetzeswerk, das am 24. August 2021 in seiner definitiven Fassung verabschiedet wurde, in Kraft. Letztendlich trägt es nun den gültigen Namen „Gesetz, das den Respekt der Prinzipien der Republik stärkt“.

Separate Separatismus-Wahrnehmung?

In der Diskussion um den Gesetzentwurf ging es dabei in der Regel überwiegend um muslimische Gesellschaftsteile, in denen tatsächlich oder vermeintlich die eigenen, religiös geprägten Regeln über die der Republik gestellt würden.

Die Startrampe für die Debatte zum „Separatismus“, bzw. um den Gesetz­entwurf bildete eine Ansprache von Staatspräsident Emmanuel Macron am 2. Oktober 2020 in der Pariser Vorstadt Les Mureaux. Was Macron und seine Berater zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten, war, dass kurz darauf eine Phase einer stärkeren Konfrontation mit dem radikalen Islamismus – darunter seiner jihadistischen Variante – beginnen würde, da am 16. Oktober 2020 der Lehrer Samuel Paty im Vorort Conflans-Saint-Honorine bei Paris durch einen 18-jährigen Tschetschenen mit jihadistischem Ideengut ermordet werden würde. Infolge der Ansprache Macrons nach diesem Mord im Innenhof der Sorbonne, bei welcher er den laizistischen Staatsanspruch unterstrich und sich auf die Zeitung Charlie Hebdo bezog (Paty hatte seinen Schülerinnen und Schüler einige ihrer Karikaturen vorgelegt), wiederum starteten antifranzösische Demonstrationen in Pakistan (die ein Jahr später, im Oktober 2021, wieder aufflammten) unter Anleitung radikaler Islamisten, Boykottaufrufe gegen französische Waren im Golfstaat Katar sowie Regierungsproteste aus der Türkei unter Recep Teyyip Erdoğan.

Ursprünglich sollte die Rede Macrons, bei deren Abhaltung man vom Mord an Samuel Paty noch nichts wissen konnte, den Teil einer innenpolitischen Phase bilden, die durch seine Berater als moment régalien (ungefähr: „der Staatsgewalt gewidmeten“, also sicherheitspolitischen Moment) bezeichnet wurde. Schon seit mehreren Monaten war eine solche Phase aus Gründen innenpolitischer Taktik und im Vorgriff auf künftige Wahlkämpfe vorgesehen.

Die Sache war seit spätestens dem Spätsommer 2020 geplant und sollte erklärtermaßen dazu dienen, Macron bei der Präsidentschaftswahl 2022 für Rechtswähler akzeptabel zu machen. Insofern wurde der damals angeregte Gesetzesvorschlag zum Thema Laizismus und Umgang mit den Muslimen auch in Zusammenhang mit dem derzeit ebenfalls heftig debattierten Entwurf für ein neues Polizeigesetz oder „Gesetz zur umfassenden Sicherheit“ gestellt. Letztgenannter Text ist, nach erheblichen Protesten vor allem zwischen Oktober und Dezember 2020 – einschließlich Demonstrationen und Polizeikesseln –, seit Mai 2021 ebenfalls in Kraft getreten.

Die Herangehensweise des mit der Ausarbeitung befassten Regierungs­vertreters, also des Innenministers Gérald Darmanin, an das vorgebliche „Problem mit Parallelgesellschaften“ illustrierte dieser selbst in einem abendfüllenden Interview mit dem Sender BFM TV vier Tage nach dem Mord an Samuel Paty. Darin überraschte er das Publikum unter anderem mit einer Kritik daran, dass es „eigene Abteilungen in Supermärkten für Halal- und für koschere Speisewaren“ gebe – was erst einmal in keinem Zu­sammenhang zu von Jihadisten ausgeübter Gewalt steht, aber auch nicht mit etwaigen Schandtaten von Mitgliedern des Klerus. Zu den ungelösten Widersprüchen gehörte dabei übrigens, dass Darmanin diese Warenangebote im Namen einer vorgeblichen Vorstellung von Universalismus angriff; doch als Lösung in demselben Interview eigene, getrennte Geschäfte für Halal- respektive Koscher-Essen favorisierte.

Kulinarisch in den Terror abdriften?

Hochproblematisch war daran insbesondere, dass Darmanin kulturelle Eigenheiten und Verbundenheiten, die eine religiöse Grundierung aufweisen, mit ernsten Problemen wie jihadistischer Gewalt oder auch etwaigem Machtmissbrauch des (auch, jedoch nicht nur muslimischen) Klerus vermengte und verquickte. Es ging insgesamt offenkundig darum, sich im Vorgriff auf künftige Wahlkampagnen damit zu profilieren, etwas gegen „zu viel ausländische Einflüsse“ zu tun, ohne jedoch mit rassistischen Thesen aufzutreten wie etwa die rechtsextreme Oppositionspartei Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlung“) oder im Herbst 2021 dessen rechter Konkurrent, der politische New­comer 
und bisherige Starjournalist Eric Zemmour – sondern, was das Re­gie­rungs­lager betrifft, unter dem Anspruch des Universalismus.

Aber was enthält der Gesetzentwurf denn nun genau? Grundsätzlich kann man ihn als Kraut-und-Rüben-Text bezeichnen, in dem unterschiedliche Aspekte miteinander vermengt werden. Einige von ihnen antworten auf durchaus reale Probleme, manche könnte man – getrennt vom Rest – sicherlich auch sinnvoll diskutieren. Andere wiederum gehorchen innenpolitischen, wahlpolitisch motivierten, ideologischen und auf „Bedrohungsgefühle“ in der Stimmbevölkerung antwortenden Motiven.

Staatliche Oberaufsicht über zivilgesellschaftliche Strukturen

Zu den wichtigsten Weichenstellungen zählt eine stärkere Staats-Aufsicht über das Vereinswesen, wobei die fran­zö­sischen associations im deutschen Recht einem gemischten Spektrum 
aus Berufs- und Freizeit-Vereinen, Bürgerinitiativen, Sport- oder Kultur-
vereinigungen und ähnlichen Struktu­ren entsprechen würden. Künftig müssen diese sich dem Staat gegenüber auf den „Respekt republikanischer Werte“ verpflichten.

Aus diesem Grunde übte der französische nationale Freidenkerverband (die Fédération nationale de la Libre pensée), eine traditionell säkular und religionskritisch orientierte Ver­einigung, von Anfang an scharfe Kritik an dem Gesetzentwurf, der einer ausführlichen Analyse unterzogen wurde. Dort ist etwa von Angriffen auf die freie Organisierung des Vereinswesens die Rede. Und die der französischen KP nahe stehende Tageszeitung L’Humanité, ebenfalls nicht eben als Hort religiös-konservativer Ideen bekannt, bewertete den Regierungsentwurf gleichermaßen kritisch. In ihren Spalten fragt man sich gar, was Letzterer mit der französischen Laïcité – also der Trennung von Religionen und Staat, in diesem Artikel anfänglich vergröbert mit „Säkularismus“ übersetzt – überhaupt zu tun habe. Handele es sich doch vielmehr um einen Text, dessen Hauptthema die Ausweitung polizeilicher Vollmachten sei.

Diese Kritikpunkte bleiben auch bei Redaktionsschluss dieses Artikels (Ende Oktober 2021) von Bedeutung. So titelte die moderat katholische, dem demokratischen Spektrum zuzuordnende Tageszeitung La Croix am 29. Oktober 2021: „Gesetz zum Separatismus: Der ‘Vertrag zur republikanischen Verpflichtung’ beunruhigt das Vereinswesen.“ In dem Artikel geht es um das in Kürze anstehende Ausführungsdekret der Regierung, dessen genauerer Inhalt bei Abschluss des vorliegenden Beitrags noch nicht bekannt war.

Eine entscheidende Frage wird dabei lauten, was man nun genau unter die zu respektierenden „Wert­vorstellungen“ fasst. Zählt man dazu ausschließlich Grundprinzipien wie den Schutz der Menschenwürde, könnte man daran wohl keinen Anstoß nehmen. Die Befürchtung lautet jedoch, dass Regierung und Behörden auch andere, viel weitergehende Vorstellungen mit darunter packen, die darauf hinauslaufen würden, zivilgesellschaftliche Strukturen auf Staatstreue einzuschwören. Zum Vergleich: Im französischen Arbeitsrecht sind Gewerkschaften seit dem Tarifgesetz vom 20. August 2008 nunmehr ihrerseits zum „Respekt republikanischer Werte“ verpflichtet. Prompt kam es vor Arbeitsgerichten zu Versuchen etwa von Arbeitgeberseiten, linke Basisgewerkschaften wie die SUD, die eine Art von Selbstverwaltungs­sozialismus (keineswegs stalinistischer Bauart) anstrebt, mit dem Vorwurf mangelnder Republiktreue zu disqualifizieren und dadurch vom Verhandlungstisch zu verbannen. Bis­lang drangen solche Versuche auf juristischer Ebene, jedenfalls im Arbeitsrecht, nicht durch. Nichts garantiert jedoch, dass eine autoritärere Auffassung vom Respekt republikanischer Werte künftig nicht die Oberhand gewinnt und ihrerseits zum Ausgrenzungsinstrument wird.

Schulpflicht und ihre Modalitäten

Ein zweiter wichtiger Aspekt betrifft das öffentliche Schulwesen. Dabei geht es nicht etwa darum, das – überwiegend katholisch ausgerichtete, und tatsächlich erhebliche Privilegien genießende und zahlungspflichtige – Privatschulwesen, das von circa zwan­zig Prozent der franzö­si­schen Schülerinnen und Schüler eines Jahr­gangs besucht wird, einzuschrän­ken (wie ein Gesetzentwurf der damaligen Linksregierung es 1984 versuchte, bevor er unter massivem Druck zurückgezogen werden musste). Dieses steht vielmehr außer Frage, und auch wenn das geplante Gesetz allgemein formuliert wurde, um Diskriminierungsvorwürfe zu vermeiden, so zielt es doch de facto quasi ausschließlich auf muslimische Einflüsse.

Im Visier steht hier konkret der Heimunterricht, den rund 0,5 Prozent der französischen schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in ihren Familien erhalten. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Dazu zählt die Situation von Heranwachsenden mit körperlichen oder gesundheitlichen Beschwerden, die von Familienmitgliedern von Zir­kusmitarbeitern und anderen reisenden Berufsgruppen oder intensiven Hochleistungssport betreibenden Ju-
gendlichen – bei welch Letzteren der Tagesablauf nicht mit einem regulären Schulbetrieb zu vereinbaren wäre –, aber sicherlich machen auch Anhänger beispielsweise christlich-fundamentalistischer Sekten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Im letzteren Falle ginge es darum, von Elternseite her zu verhindern, dass die Heranwachsenden etwa mit den Inhalten von Sexualkundeunterricht oder Evolutionslehre in Berührung kommen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses eher aus dem freikirchlichen Milieu bekannte Phänomen auch für salafistisch orientierte Eltern von Interesse ist.

Nun wäre nichts dagegen einzuwenden, in solchen Beispielen das Interesse der Kinder über die Ideologie der Eltern zu stellen und darauf zu pochen, dass deren Nachwuchs nicht ihr „Eigentum“ ist. Allerdings beschränkt sich die Realität des Heimunterrichtswesen keineswegs auf solche extremen Fälle. Vielmehr fallen zum Beispiel auch Jugendliche darunter, die durch Mobbing oder andere traumatisierende Sozialkontakte beim regulären Schulbesuch beeinträchtigt wurden – ein hochaktuelles Thema: im Oktober 2021 bewegte der Selbstmord der 14-jährigen Schülerin Dinah im elsässischen Mulhouse infolge intensiven Mobbings durch Schulkameradinnen, rassistischer und homophober Beleidigungen die französische Öffentlichkeit –, und ebenso Kinder und Heranwachsende mit autistischen Tendenzen.
Die Regierung bereitet nunmehr, setzt sie ihr Gesetzesvorhaben wie geplant um, einen Kahlschlag auf diesem Gebiet vor. Nur noch in nachgewiesenermaßen medizinisch indizierten Fällen sowie bei Intensivsportlerinnen sollen Ausnahmen ermöglicht werden. Kinder mit Sozialisierungsschwierigkeiten oder Mobbingproblemen, jedenfalls so lange diese nicht durch die Verwaltung oder notfalls durch Gerichtsurteil explizit anerkannt wurden, dürften dabei außer Betracht bleiben.

Zentralstaat und Kommunen

Zum Dritten ermöglicht der Entwurf auch stärkere zentralstaatliche Eingriffe in öffentliche Dienstleistungen, die etwa durch Kommunen erbracht werden. Trifft der zuständige örtliche Dienstleistungsträger Entschei­dungen, die als Verstoß gegen republikanische Prinzipien gewertet werden, soll künftig der Präfekt oder die Präfektin (als juristische/r Vertre­ter/in des Zentralstaats in jedem der 101 Verwaltungsbezirke oder Départements) direkt in die Verwaltung eingreifen dürfen. Bislang übt die Präfektur nur eine Rechts­aufsicht aus, die es ihr erlaubt, gesetzwidrige Beschlüsse – liegt etwa eine Veruntreuung öffentlicher Gelder vor – dem Verwaltungsgericht zur Kontrolle vorzulegen. In Zukunft könnte der Repräsentant des Zentralstaats unter Umständen in viel weiter gefächerter Weise in örtliche politische Entscheidungen eingreifen. Wenn er diese vor einem Verwaltungsgericht anficht, kommt dieser Entscheidung „aufschiebende Wirkung“ (un effet suspensif) zu, das bedeutet, die Beschlüsse örtlicher Dienstleistungsträger bleiben bis zu einem rechtskräftigen Gerichtsentscheid ausgesetzt und finden keine Anwendung.

Als Beispiel zitiert werden Be­schlüsse von Kommunen, die in Schwimm­bädern für Frauen reservierte Öffnungszeiten zulassen. Dies, so lautet die Argumentation, werde von Islamisten oder konservativen Muslimen als Vehikel genutzt, um eine Geschlechtertrennung einzuführen und keine männlichen Blicke auf Frauenkörper zuzulassen. Zwar werden solche Angebote, wo vorhanden, auch durch konservativ eingestellte muslimische Frauen in entsprechendem Sinne genutzt. Aber auch beispielsweise durch andere Frauen, die sich für übergewichtig oder aus anderen Gründen für unattraktiv halten, und wird von diesen mitunter tendenziell als eine Befreiung von störenden Blicken erlebt. In den letzten Jahren wurde dieses Phänomen jedoch in der politischen Debatte meistens, mindestens grob vereinfachend, unter den Ober- oder auch Kampfbegriff „islamistischer Druck“ subsumiert… und oft auch zum Gegenstand politisch motivierter Kampagnen gemacht.

Das Regierungslager will auch für eine stärker in Frankreich erfolgende Imam-Ausbildung (statt in den Herkunftsländern vieler muslimischer Migranten) sorgen, eine Ankündi­gung, die in den letzten anderthalb Jahr­zehnten periodisch von allen aufein­ander folgenden Regierungen kam und dann wieder in Vergessenheit geriet. Würde eine Umsetzung doch Investi­tionen in Institute und pädagogische Mittel erfordern.

Arabischunterricht für Kinder, in deren Familien arabische Dialekte als Herkunftssprache praktiziert werden, soll stärker an staatliche Schulen verlagert werden, um nicht im unkontrollierten Bereich von Kulturvereinigungen und Koranschulen zu erfolgen. Daran ist generell nichts auszusetzen. Letzterer Punkt trug und trägt dem Regierungslager wiederum Druck von Rechts ein, wo, wie von dieser Seite zu erwarten war, gebetsmühlenartig der Vorwurf eines Beitrags zur Überfremdung erhoben wird: Nun auch noch Arabischunterricht in „unseren“ Klassenräumen…?

Vorläufige Schlussfolgerung

Alles in allem bleibt der Eindruck, dass unter dem Deckmantel einer besseren Durchsetzung eines staatsoffiziell proklamierten Universalismus hier ein inhaltlich bestenfalls durchmischter, teilweise autoritären Tendenzen ohne Bezug zum Thema „Macht(missbrauch) des Klerus“ nachgebender Text auf den Weg gebracht wurde. An der demokratisch, aufklärerisch, humanistisch ausgerichteten Opposition liegt es nun, dafür zu sorgen, dass die sehr weitgehend berechtigte Kritik daran nicht dazu führt, das Kind mit dem Bade auszuschütten und eine grundfalsche Ablehnung von Universalismus als solchem zu propagieren. Bei Macron & Co. jedoch liegt der Universalismus in schlechten Händen – von der derzeit stärker werdenden Rechts(außen)opposition völlig zu schweigen.