Das betrifft nicht nur sozioökonomische Fragen, die in der Regel die Partei- und Wahlprogramme dominieren. Es geht in den kommenden Jahren vor allem um die Frage, wie wir die Gesellschaft in Anbetracht der vielen bestehenden Herausforderungen gestalten wollen. Hier seien die zunehmenden sozialen Verwerfungen, die wachsende Zahl an Geflüchteten sowie das Widererstarken nationalistisch-faschistischer Strömungen beispielhaft aufgezählt.
Zu Fragen, bei denen es um die Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft geht, gehören auch Fragen zum Staat-Kirchen-Verhältnis sowie zur Rolle der Konfessionslosen. Aus diesem Grund hat sich die MIZ-Redaktion die Wahlprogramme verschiedener Parteien angeschaut und einzelne Vertreter um Stellungnahmen zu diesem Verhältnis gebeten. Dabei hat sich die Redaktion von folgenden Gedanken leiten lassen: Was ist nach den Bundestagswahlen von den im Parlament vertretenen Parteien hinsichtlich ihrer religionspolitischen Ausrichtung zu erwarten? Welche Möglichkeiten der politischen Gestaltung räumen die Parteien den Konfessionslosen ein? In welchen Rahmenbedingungen bewegen sich die politischen Fraktionen?
So bedeutsam Wahlen als Instrument der politischen Partizipation auch sind, eine gewisse Skepsis ist angebracht. Wenngleich die Bundeszentrale für politische Bildung Wahlen als „die wichtigste Form politischer Beteiligung in der Demokratie“ bezeichnet, denn ohne Wahlen sei Demokratie nicht denkbar.1 Einerseits gibt es eine nicht unbedeutende Diskrepanz zwischen Wahlprogrammen und späterer Regierungspolitik, andererseits fehlt es den Konfessionslosen, wie auch anderen gesellschaftlichen Gruppen, am nötigen Einfluss (Stichwort: Lobbyarbeit) auf Fraktionen und Politiker_innen, was nicht zuletzt an den Gesetzen zur religiös motivierten Beschneidung von Kindern und zur Sterbehilfe exemplifiziert werden kann. Zwei überaus peinliche und menschenrechtswidrige Gesetzgebungsverfahren, die durch den maßgeblichen Einfluss von Kirchen und Religionsgemeinschaften ad absurdum geführt wurden. Wahlen sind somit nur ein Instrument des Ausdruckes der politischen Willensbildung – keinesfalls das einzige.
Erfreulicherweise sind Konfessionslose nicht allein auf die Wahlen angewiesen, denn die letzten Jahre haben gezeigt, dass (Denk)Anstöße für gesellschaftlichen Wandel zuerst in der Zivilgesellschaft und danach in den Parlamenten verhandelt wurden. Hier muss also die Arbeit der Konfessionslosen ansetzen, für Information und Aufklärung sorgen, um (politische) Kultur zu verändern. Drei Beispiele seien hierfür kurz angerissen.
Die Familie bzw. das, was mittlerweile unter Familie verstanden wird, ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich das (Selbst)Verständnis der Gesellschaft verändert hat und welche untergeordnete Rolle den Parteien und dem Parlament dabei zukommt. Wie Menschen zusammenleben, bestimmen längst nicht mehr die Kirchen und Parteien, so sehr sich auch eine Minderheit fundamentalistisch und/oder biologistisch denkender Menschen dagegen wehrt, ob sie nun Hedwig von Beverfoerde, Beatrix von Storch oder Ulrich Kutschera heißen. Menschen leben heute zusammen, wie sie es wollen, und richten ihren Haushalt nicht danach aus, ob nun Angela Merkel das so genannte Gesetz der „Ehe für alle“ ins Parlament eingebracht hat oder nicht. Ein weiteres Beispiel ist das kirchliche Arbeitsrecht. Gewerkschaften und Arbeitnehmer_innen haben in den letzten Jahren den Druck auf die kirchlichen Arbeitgeber erhöht und dazu beigetragen, dass sich im zweiten Schritt Politik und Medien mit dem Thema befassen. Und schließlich die Regelungen zu den stillen Feiertagen. Auch in Zukunft wird es immer wieder zu Strafen kommen, aber die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, das Verbot der Münchener „Heidenspaß-Party“ von 2007 für verfassungswidrig zu erklären, zeigt, dass es eine Frage der Zeit ist, bis auch diese (religiöse) Schranke fallen wird. Millionen Bürger_innen feiern, leben und arbeiten so, wie sie es als freie und aufgeklärte Bürger_innen tun wollen und nicht, wie es Kirchen und Religionsgemeinschaften oder auch Parteien von ihnen verlangen. Damit greift die Macht des Faktischen.
Doch Achtung, denn je mehr Konfessionslose die Werte der freien und aufgeklärten Gesellschaft vertreten, umso stärker wird der Gegenwind. Innerhalb wie außerhalb der politischen Parteien wird verstärkt der Wunsch artikuliert, auch „Minderheitenreligionen“, wie Christine Buchholz (religionspolitische Sprecherin der Partei Die Linke) sie nennt, an den Staatsleistungen, die die beiden christlichen Kirchen beziehen, teilhaben zu lassen. Das Infragestellen der Staatskirchenverträge sei kontraproduktiv, so die Argumentation, führe dies doch „zu Verunsicherung bei Minderheitenreligionen, die um Gleichberechtigung ringen“, so Christine Buchholz, die damit die Rücknahme des Kirchenbeschlusses auf dem letzten Parteitag der Linken begründete.2 In seiner Wirkung ist der Beschluss fatal, wird doch aus falsch verstandener Solidarität Politik auf Kosten von über 30 Millionen Konfessionslosen betrieben, die ihrerseits keine Gleichberechtigung im Sinne von Religionsfreiheit = Freiheit von Religion erfahren. Doch nicht nur das. Mit einer Mischung aus geschickter Personalpolitik und dem Schaffen von Fakten wird die Gesellschaft vor neue Herausforderungen gestellt, denn das Aufrechterhalten und die Ausweitung des Status quo, so wie es die Parteistrateg_innen fordern, spielt den konservativen Verbänden in die Hände und schwächt die progressiven Stimmen innerhalb der so bezeichneten „Minderheitenreligionen“.
Das offensichtliche „Zerwürfnis zwischen einflussreichen Kreisen im linken Spektrum und den Säkularen“3 ist nicht mehr zu übersehen. Es gilt einmal mehr, aufzustehen und den Wenigen den Rücken zu stärken, die für eine aufgeklärte und selbstbestimmte, d.h. säkulare Gesellschaft kämpfen. In diesem Sinne, Geschichte wird gemacht!
Anmerkungen:
1 Pötz, Horst: Wahlen. Quelle: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-demokratie/39310/wahlen (Letzter Zugriff: 30.07.2017). 2 Neues Deutschland: LINKE: Ende von Kampfeinsätzen Bedingung für Rot-Rot-Grün. Quelle: https://www.neues-deutschland.de/artikel/1053710.linke-ende-von-kampfeinsaetzen-bedingung-fuer-rot-rot-gruen.html (Letzter Zugriff: 30.07.2017). 3 Wakonigg, Daniela: Dawkins, die Linke und die Islamkritik. Quelle: https://hpd.de/artikel/dawkins-linke-und-islamkritik-14662 (Letzter Zugriff: 30.07.2017).