Nicht die 1900 Seiten des jüngsten Münchner Missbrauchsgutachtens waren das Wichtigste. Eine dreistellige Zahl von Tätern und eine noch höhere bei den Opfern, das hatten wir auch schon bei anderen Bistümern. Auch die Versäumnisse und Vertuschungen der Kardinalsriege bieten nichts Neues. Betroffenheit und Scham äußern sowie beten für die Opfer, das kennt man schon.
Aber die 82 Seiten Rechtfertigung, die der einstige Münchner Kardinal und spätere Papst Josef Ratzinger der untersuchenden Kanzlei zukommen ließ, haben es in sich. Qui s’excuse s’accuse heißt es im Französischen, wer sich entschuldigt, klagt sich an. Der Unfehlbare nimmt Täter in Schutz: Im Fall eines Beschuldigten sei doch „zu berücksichtigen, dass der Priester als Exhibitionist und nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn aufgefallen“ sei, wobei es nicht zu Berührungen der Opfer gekommen sei. Und er habe bei seinen Handlungen als ‘anonymer Privatmann’ gehandelt. Derlei Empathie und Einfühlungsvermögen hätten sich die Opfer wohl auch gewünscht.
Ratzingers Verteidigung gipfelte in der Behauptung, er habe an jener entscheidenden Ordinariatskonferenz im Januar 1980 gar nicht teilgenommen, auf der über die berufliche Wiederauferstehung des vielfachen Missbrauchstäters Peter H. entschieden wurde. Nur: Im Protokoll war er als anwesend verzeichnet. Und wörtlich heißt es dort: „Der Herr Kardinal berichtet über die Trauerfeier aus Anlass des Todes von Kardinal Bengsch und informiert über den letzten Versuch von Bischof Moser und Papst Johannes Paul II., den Fall Professor Küng im Guten zu regeln. Er berichtet ferner über das Gespräch, das Papst Johannes Paul II. am 28. Dezember 1979 mit einigen deutschen Bischöfen im Fall Prof. Küng geführt hat.“ Wer anders hätte denn darüber berichten können, wenn nicht Ratzinger selbst?
Daraus folgert die Kanzlei WestpfahlSpilkerWastl, der Ex-Papst sei schlicht einer Lüge überführt. In höchster Bedrängnis beging der Lügner (oder seine Berater) nun einen weiteren Fehler. Da er diese offensichtliche Unwahrheit nicht einfach im Raume stehen lassen konnte, reichte er die Ausrede nach, seine Falschaussage sei „die Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung“ seiner Stellungnahme. Aber Lügen hatten auch hier zu kurze Beine. Die sonst kirchenfreundliche Frankfurter Allgemeine deckte prompt auf, dass Kardinal Marx schon am 5.11.2021 eben die Falschbehauptung vorgebracht hatte, die Ratzinger in seiner Stellungnahme vom 15.12. abgab und am 24.1.2022 korrigieren musste. Damit wurde klar: In diese offensichtlich abgesprochene Verteidigungsstrategie für den Ex-Papst war auch Marx vorab einbezogen. Auch die nachgeschobene Ausrede vom „redaktionellen Versehen“ war damit als weitere Unwahrheit entlarvt.
Das Kirchenvolk hat inzwischen verstanden, dass es auf eine solche moralische Instanz verzichten kann. Der Staat sollte es auch begreifen.