MIZ: Was bedeutet eigentlich: „Eine Religion ist untergegangen“?
Hartmut Zinser: Ich sehe eine Religion als untergegangen oder verschwunden an, wenn sie als Gemeinschaft nicht mehr handelt und handlungsfähig ist. Albert de Jong vergleicht einen Untergang von Religionen mit dem einer Sprache. Diese sei untergegangen, wenn sie im Alltag von niemandem mehr gesprochen wird. So kann man sagen, eine Religion ist untergegangen, wenn es keine Gläubigen mehr gibt.
MIZ: Die meisten Menschen denken, wenn sie nach einem Beispiel für den Untergang einer Religion gefragt werden, wahrscheinlich an die Vernichtung der Katharer oder an die Auslöschung indigener Kulturen wie der Inka oder der Azteken. Das wäre also zu einseitig gedacht...
Hartmut Zinser: Ja, es gibt viele untergegangene Religionen. Die Religionswissenschaft beschäftigt sich mit diesen eher selten und sucht nach Transformationen. Beispielsweise sind die antiken Religionen der Griechen und Römer als Religionen verschwunden und zum Teil in Bildung transformiert. Der Buddhismus ist aus Indien verschwunden und ebenso aus Java, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen. Auch das Christentum in Nordafrika, wo Tertullian, Kyprian und Augustinus gewirkt haben, ist verschwunden.
MIZ: Und was sind die wichtigsten Faktoren dafür, was beim Untergang einer Religion konkret passiert?
Hartmut Zinser: Die wichtigsten Faktoren, die zu einem Untergang einer Religion führen, waren eine gewaltsame Eroberung und der Verlust der Glaubwürdigkeit einer Religion. Es gab gewalttätige Untergänge aber auch friedliche. Religionen entspringen bestimmten gesellschaftlichen und geschichtlichen Situationen – wenn diese sich deutlich verändern, müssen sie sich angleichen. Buddhismus, Christentum und Islam zum Beispiel sind unter vornehmlich agrarischen Verhältnissen entstanden und haben deshalb Schwierigkeiten in einer industriell-bürokratischen Gesellschaft.
MIZ: Nehmen wir das Beispiel, mit dem Sie selbst in Ihrem Buch einsteigen: die Neuen Religiösen Bewegungen, die seit den 1960er Jahren entstanden sind. Wie groß ist etwa der Anteil derer, die jetzt, 50 Jahre später, bereits wieder verschwunden, also untergegangen sind?
Hartmut Zinser: Wenn ich meine (jungen) Studenten nach Bhagwan, Hari Krischna und Mun frage, kennt diese niemand mehr. Nils Grübel und Stefan Rademacher haben 2003 das Handbuch: Religion in Berlin herausgegeben. Dazu hatten sie mit Studenten die meisten dieser Religionsgemeinschaften aufgesucht. Circa 12 Monate nach Erscheinen des Bandes hat Professor Ch. Ternes aus Luxemburg versucht, diese Gemeinschaften zu kontaktieren. Etwa 40% waren nicht mehr erreichbar. Das Problem dieser Neugründungen durch einen religiösen Virtuosen oder Guru ist der Wechsel in die zweite und dritte Generation. Diese bringen die meisten Neugründungen nicht zustande, sie schaffen den Übergang von einer religiösen Bewegung in eine Organisation nicht.
MIZ: Lässt sich sagen, was zu deren Verschwinden beigetragen hat? Waren das einfach Angebote, die sich im Supermarkt der Religionen gegen vergleichbare Angebote nicht durchsetzen konnten, oder spielt nicht doch auch eine Rolle, ob es staatlicherseits zu Akzeptanz oder zu Repression kommt?
Hartmut Zinser: Von einem Markt der Religionen kann man eigentlich erst nach Verkündigung der Religionsfreiheit sprechen. Dieses Recht schließt auch ein Angebot einer neuen Religion ein. Diese müssen sich auf dem Markt behaupten und das gelingt vielen dieser Gruppierungen nicht. Ich würde die Maßnahmen der Staaten eher gering einschätzen. Mir fallen jetzt zwei Gruppen ein: Jim Jones in Guayana und die Sonnentempler in Kanada und der Schweiz, die schließlich durch Selbstmord verschwanden. Dabei spielten auch die staatlichen Nachforschungen wegen ihres Geschäftsgebarens eine Rolle. Gewalttätige Aktionen von Staaten wie in Wacco sind Ausnahmen. Neugründungen religiöser Gruppen sind für die Menschen aus vielen Gründen zunächst einmal während des Erwachsenwerdens interessant. Wenn sie ins Arbeitsleben eintreten und dann auch Kinder haben, verschieben sich die Anforderungen und Interessen und sie verlassen ihre Bewegung.
MIZ: Wenn wir dieses Beispiel vergleichen mit dem Untergang der christlichen Strömungen, die sich im 4. bis 6. Jahrhundert nicht gegen die katholische Variante des Christentums durchsetzen konnten – was stellt sich ähnlich dar, was ist anders gelaufen?
Hartmut Zinser: Die Christen hatten ein alternatives Religionsangebot, das schließlich durch die Edikte von Theodosius im Jahr 380 den Untergang der Strömungen außerhalb der dann konstituierten Großkirchen herbeiführte. Dabei spielte der staatliche Zwang eine große Rolle.
MIZ: Entfaltet eigentlich nach einem militärischen Sieg mit anschließender Unterwerfung der „siegreiche“ Gott eine Anziehungskraft auf die Besiegten? Oder sind die dann zu verzeichnenden Konversionen eher Druck, Furcht und Opportunismus zuzuschreiben?
Hartmut Zinser: Ja, das kann man immer wieder beobachten. Ein Gott, der einen nicht vor Eroberung schützt, verliert seine Plausibilität. Nur das Judentum hat sich dagegen behaupten können.
MIZ: Ein drittes Beispiel: die christliche Mission im Rahmen der europäischen Expansion und des Kolonialismus. Hier ist der Fall doch klar: Die Vernichtung der vorgefundenen Religionen gehörte zum Unterwerfungsprogramm. Oder gibt es hier Ausnahmen?
Hartmut Zinser: Ich würde das so nicht sagen. Es gab auch eine Bekämpfung von einheimischen Religionen, aber den europäischen Kolonisatoren kam es auf Profite an, nicht auf Konversionen. Gegen einheimische Religionen sind sie in der Regel vor allem vorgegangen, wenn diese sich zum Ort und Zentrum eines Widerstandes gegen die Kolonisierung entwickelten.
MIZ: Seit dem 19. Jahrhundert gilt in den Staaten, die sich imperialistisch engagierten, zumindest formal Religionsfreiheit. Wie hat sich das im Umgang mit der Religion der kolonisierten Länder ausgewirkt?
Hartmut Zinser: Seit der Unabhängigkeit dieser Länder, etwa seit 1960, haben diese die Religionsfreiheit als Regel übernommen und das führte auch in einigen Ländern zu einer Wiederkehr der alten Religionen. Allerdings haben sich diese dabei sehr verändert. Denn inzwischen hat sich das Alltagsleben, das früher auch durch die Religion gestaltet war, so verändert, so daß man eigentlich von Neugründungen sprechen muss.
MIZ: Der Islam räumt den anderen „Schriftreligionen“ ja eine Sonderrolle ein, was sicherlich dazu beigetragen hat, dass Judentum und Christentum in seinem Herrschaftsbereich nicht völlig verschwunden sind. Nun gibt es aber die interessante Beobachtung, dass es im Vorderen Orient und in Ägypten größere christliche Gemeinden gibt, in den anderen nordafrikanischen Staaten hingegen nicht mehr. Welche Ursachen gibt es dafür?
Hartmut Zinser: Das kann ich nicht genau sagen, da es dazu kaum Publikationen gibt. In Nordafrika haben die erobernden Araber nach dem Jahr 698 eine Islamisierung betrieben, die zum Verschwinden des Christentums führte.
MIZ: Wir haben bislang über den Untergang konkreter Religionen gesprochen. Nun gibt es seit der Französischen Revolution immer mal wieder von aufklärerischer Seite Bestrebungen, die Religion an sich abzuschaffen. Was läuft da anders?
Hartmut Zinser: Nach meinen Beobachtungen haben bisher nur Religionen andere Religionen zum Verschwinden gebracht. Auch darf man nicht übersehen, daß in der Verfassung der französischen Revolution Religionsfreiheit verkündet wurde. Es gab dann zwei Phasen einer déchristianisation, in der die katholische Kirche heftig bekämpft wurde. Dagegen gab es ebenso heftige Widerstände vor allem von Frauen. Robespierre hat schließlich gegen diese Entchristlichung gesprochen (1793): „L’atheism est aristocratique“ und den Kampf gegen die Religion als Fanatismus bezeichnet. Napoleon hat 1801 ein Konkordat mit dem Papst geschlossen. Und ich möchte noch einmal deutlich herausstellen, daß die Verfassung der französischen Revolution zum ersten Mal seit dem Edikt von Theodosius aus dem Jahr 380 Religionsfreiheit verkündete. Auch die Russische Revolution hat Religionsfreiheit in ihre Verfassung aufgenommen. Da allerdings die orthodoxe Kirche vielfach sich auf die Seite der Konterrevolution geschlagen hatte, wurde die Kirche heftig bekämpft. Das endete erst mit der Wende 1989. Allerdings ist das Staats-Kirchenverhältnis in Russland anders als bei uns. Dort wird seit byzantinischer Zeit eine „symphonia“ zwischen Staat und Kirche angestrebt.
MIZ: Spielt „Säkularisierung“ im weitesten Sinne eine Rolle beim Untergang von Religionen?
Hartmut Zinser: Das ist schwer zu beantworten. Sicher hat die Religionskritik der französischen Aufklärung und die Forderung der Trennung von Staat und Kirche eine große Wirkung gehabt. Doch scheinen mir die Änderungen der Lebensverhältnisse seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert mehr zu einer Säkularisierung beigetragen zu haben – vor allem im Alltag. Denn viele Aufgaben und Bereiche, wie Schulen, Krankenhäuser, hat der Staat übernommen und damit die Kirchen aus vielen ihrer traditionellen Bereiche verdrängt. In Deutschland hat die Fürstenrevolution von 1803 heftig zur Säkularisierung beigetragen. Wir haben aber bis heute nur eine „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche, wie es Zacharias Giacometti 1926 formulierte; dazu muss man sich nur die in das Grundgesetz übernommenen Artikel der WRV Art. 136 bis 141 ansehen.
MIZ: Aber die These, dass die fortschreitende Säkularisierung der Welt quasi zwangsläufig das Verschwinden von Religion mit sich bringt, würden Sie als „unbegründete Hoffnung“ ansehen?
Hartmut Zinser: Einer der Hauptvertreter dieser These, Peter Berger, hat sich 1999 von ihr verabschiedet. In der Religionswissenschaft wurde sie nur von sehr wenigen vertreten. Wir können beobachten, daß in den meisten europäischen Staaten ein Rückgang der Kirchlichkeit festzustellen ist, weltweit, vor allem in Südamerika, Afrika und Ozeanien, aber eine Zunahme, wie Norris und Inglehart in einer 2005 erschienenen Studie ermittelt haben. Es gibt sicher keinen Automatismus von Modernisierung / Industrialisierung und Säkularisierung. Auch besinnen sich die früher kolonialisierten Länder auf ihre eigene Tradition oder was sie dafür halten, so dass in vielen islamischen Ländern die Parole vertreten wird: der Islam ist die Lösung, und das richtete sich gegen die als europäischen Import angesehene Säkularisierung.
MIZ: Für Deutschland ist ja absehbar, dass in 20 Jahren vielleicht noch ein Viertel der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden großen christlichen Kirchen sein wird. Deutet sich da der Untergang der uns bekannten Konfessionen zumindest in Mitteleuropa an oder ist eine Transformation in eine Kirche ohne Mitglieder denkbar?
Hartmut Zinser: Ich bin kein Prophet, wie die weitere Entwicklung in Deutschland laufen wird, kann ich nicht sagen. Es können viele Änderungen eintreten, die wie der Krieg gegen die Ukraine unser Leben und unsere Gesellschaft umwerfen werden, und dazu gehört ohne Zweifel auch die religiöse Sphäre. Zwar können wir erwarten, dass die Kirchlichkeit weiter zurückgeht und sich vielleicht ein Zustand wie in der früheren DDR einstellt. Aber durch einen Kirchenaustritt sind die meisten Menschen ja nicht areligiös geworden. Über die Religiosität der Ausgetretenen wissen wir einfach zu wenig. Das wäre einmal eine Forschungsaufgabe. Jedenfalls ist es den Freidenker- und Atheistenverbänden bisher nicht gelungen, einen großen Teil der Ausgetretenen zur organisieren. In der katholischen Kirche wird schon seit langem, ohne daß das öffentlich bekannt wurde, über eine Kirche ohne Mitglieder nachgedacht.
MIZ: Können weltweit verbreitete Religionen wie das Christentum oder der Islam heute überhaupt noch untergehen? Oder ist das Phänomen Untergang nur für Religionen von begrenzterer Reichweite vorbehalten?
Hartmut Zinser: Ja, sie können wie die antiken Religionen durch eine neue Religion verdrängt werden. Untergehen aber werden sie wahrscheinlich auch dann nicht, denn auch sie sind durch das Prinzip der Religionsfreiheit geschützt. Und es wird darauf ankommen, die Religionsfreiheit, und die schließt auch ein: Freiheit von Religion, zu verteidigen und ein friedliches Zusammenleben von Religiösen und Nichtreligiösen ohne Privilegien zu verwirklichen.
„Nur Religionen haben andere Religionen zum Verschwinden gebracht“
Ein Gespräch mit dem Religionswissenschaftler Hartmut Zinser über den Untergang von Religionen
Die einfache Fortschrittsidee, dass mit der zunehmenden Verbreitung moderner Gesellschaftsstrukturen die Religion allmählich abstirbt, würde heute wohl niemand mehr vertreten. Trotzdem sind in einigen industrialisierten Staaten die Religionsgemeinschaften in einer tiefen Krise, sprechen Kirchenvertreter mehr oder weniger deutlich vom absehbaren Zusammenbruch der bisher bestehenden kirchlichen Strukturen. In anderen Regionen der Welt geraten Minderheitenreligionen, ob Christen im Vorderen Orient oder Muslime in Myanmar, zunehmend unter Druck. MIZ hat mit dem Religionswissenschaftler Hartmut Zinser darüber gesprochen, was es heißt, wenn eine Religion untergeht.