Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/22 | Geschrieben von Romo Runt

„Den Diskurs in Realität übergehen lassen“

Die Suche nach einer politischen Strategie des Säkularismus

Ende März fand in Halle eine Fachtagung zum Thema „Gemeinsame Kämpfe im Exil: Säkularismus und Feminismus“ statt. Dabei diskutierten feministische und säkulare Aktivist:innen, wie es gelingen könnte, eine Strategie zu finden, ein universalistisches Verständnis der Menschenrechte in die politische Offensive zu bringen. Vor allem die im Exil lebenden Teilnehmer:innen drängten dabei darauf, die Auseinandersetzung wirklich als Kampf zu verstehen.

Eingeladen hatten Projekt 48. Forum für Aufklärung, Emanzipation und Skepsis und der Hallenser Dornrosa. Gekommen waren 15 Expert:innen aus verschiedenen politischen Bereichen, Parteien, Gewerkschaften, humanistischen und laizistischen Organisationen. Die vier Impulsreferate hatten im deutschen Exil lebende Säkulare übernommen. Eine professionelle arabische und englische Übersetzung sorgte dafür, dass sich alle gleichberechtigt am Gespräch beteiligen konnten.

Thematisch war die Veranstaltung in zwei Blöcke aufgeteilt: Säkularismus und Feminismus. Dass die beiden Themen vielfach aufeinander bezogen sind und als politische Ziele nur im Paket durchzusetzen sind, war eine der Erkenntnisse, die aus den Debatten des Tages hervorging. Eine andere, bittere Einsichten vermittelten die Statements der Exilierten: Wer sein Geburtsland verlassen muss, weil das eigene politische Engagement mit der religiösen Rechten in Konflikt gerät, muss in Deutschland überrascht feststellen, dass die auch hier Einfluss hat und dieser sogar größer ist, als das Bild eines modernen Industriestaates mit formaler Trennung von Staat und Kirche und einer Bevölkerung mit nur noch geringer kirchlicher Bindung vermuten ließe.

Säkularität in der arabischen Welt

Zunächst sollte aber die Idee des Säku­larismus genauer umrissen werden, um zu klären, ob der Begriff in den verschiedenen Kultur- und Sprach­räumen mit denselben Vorstel­lungen verbunden ist. Die ersten beiden Vorträge befassten sich dafür beispielhaft mit dem arabischen Raum und insbesondere mit Syrien. Hammoud Hammoud zeigte einige Aspekte auf, warum sich eine moderne Säkularität in den arabischen Staaten nicht durchsetzen konnte. Da der Dekolonisierungsprozess als einen Aspekt der Abgrenzung gegenüber den Kolonialmächten häufig die Rückbesinnung auf vermeintlich „eigene“ religiöse Traditionen enthielt, kam es in dessen Zuge zu einer neuen „Konfessionalisierung“ der Länder des Nahen Ostens. Da zugleich autoritäre Regime mit säkularem Anstrich an die Macht kamen, die de facto den ehemaligen Kolonialmächten und den lokalen Eliten dienten, war das Konzept Säkularismus belastet.

Als ein Beispiel für ein solches Regime stellte Tarek Azizeh Syrien vor, das vom Assad-Clan als säkularer Staat inszeniert wird. Doch auch wenn Syrien sich deutlich von den religiös geprägten Diktaturen der Region unterscheidet, finden sich in der politischen Ordnung zahlreiche religiöse Vorgaben (so muss der Staatspräsident Muslim sein und die Scharia spielt bei der Gesetzgebung eine Rolle). Zudem existiert eine informelle Förderung von Religion und eine massive finanzielle Unterstützung der Moscheen. Die zivilgesellschaftlichen Akteure vertreten (oder vertraten bis zum Ausbruch des Krieges, der für viele, wie auch den Referenten, den Gang ins Exil bedeutete) ein anderes Konzept von säkularer Gesellschaftsordnung.

In einem kurzen Co-Referat ergänzte Ahmed Nadir die Perspektive bengalischer Blogger. Auch er beschrieb, dass die Religion in den letzten Jahrzehnten vor allem in ihren fundamentalistischen Varianten an Bedeutung gewonnen hat und eines der Ziele der säkularen Blogger war, „Areligiosität“ als Lebenskonzept öffentliche Akzeptanz zu verschaffen (was, wie die über 30 Morde der letzten Jahre zeigen, gescheitert ist). Nadir betonte, dass in Bangladesch früher ein Islam in sufistischer Tradition weit verbreitet war, der gemeinsame Rituale der muslimischen und hinduistischen Bevölkerungsgruppen zuließ. Die Zuspitzung der Konflikte der letzten Jahre sei auf das militante Agieren der islamischen Rechten zurückzuführen, was in der westlichen Welt viel zu wenig wahrgenommen werde.

In der weiteren Debatte ging es dann, abgesehen von einer Kritik an Schwächen sog. postkolonialer Ana­lysen, weniger um theoretische Fragen als vielmehr um die Stellung säkularer Migrant:innen und Geflüchtete in Deutschland. Dabei wurde deutliche Kritik an den säkularen Verbänden laut, die zu einer stärkeren Zusam­men­arbeit aufgefordert wurden. Säkulare Migrant:innen bräuchten eine Plattform, um sichtbar zu werden. Dass aus öffentlichen Mitteln dafür keine Finanzierung in Sicht ist, hat nach dem Eindruck der Exilierten vor allem auch damit zu tun, dass der deutsche Staat die Eingewanderten mit stereotypem Blick in Schubladen steckt. Die Migrant:innen würden immer noch mit der Religion ihrer Herkunftsländern identifiziert, es dominiere ein „Community-Denken“, das Vielfalt innerhalb der Geflüchteten bewusst nicht wahrnehme.

Gleichberechtigung und Frauenrechte

Am Nachmittag ging es um die besondere Situation der Frauen. Naïla Chikhi erläuterte anhand der Entwicklung in nordafrikanischen Staaten, warum Religion für viele Frauen zum Fluchtgrund wird. In diesen Staaten war die Familienpolitik schon immer eine Domäne der Konservativen, seit einiger Zeit ist sie aber zunehmend islamistisch geprägt. In der Folge würden selbst die „minimalen säkularen Errungenschaften“ immer heftiger angegriffen. Hätte in Algerien die Generation ihrer Mutter noch um „Gleichberechtigung“ gekämpft, hat sich die Situation der Frauen heute soweit verschlechtert, dass junge Feministinnen sich damit begnügen, die Achtung ihrer Menschenwürde einzufordern.

Alia Ahmad betonte, dass Frauen­rechte in Deutschland für migrierte Frauen nur sehr eingeschränkt gelten. Gleichzeitig sei aber festzustellen, dass auch die migrantischen Selbst­organisationen nicht selbstbestimmt agieren, da sie oft den Er­wartungen ihrer Geldgeber:innen unter­liegen. Zudem fänden nicht alle Migrant:innen Gehör; aus dem breiten Spektrum an Auffassungen werde vor allem wahrgenommen, was zu den stereotypen Vorstellungen der deutschen Behörden und Politik passe. In der Folge erfahren gerade säkulare Migrant:innen und deren Kinder in Deutschland eine doppelte Diskriminierung: Für Deutsche sind sie oft die „Fremden“, für die vermeintlich „eigene“ Community die Abweichler:innen.

Auch Alia Ahmad kritisierte kurzschlüssige Bewertungen vor allem sog. intersektionaler Kreise. Die Tatsache, dass verschleierte Frauen die ersten Opfer rassistisch motivierter Übergriffe seien, dürfe nicht dazu führen, den Hijab als Kleiderordnung zu verteidigen oder sogar den Hijab Day zu unterstützen. Eine angemessene politische Analyse müsse dies trennen können.

Was tun?

Die Diskussion über mögliche Strate­gien verlief lebhaft. Unter den vielen teils eher allgemeinen, teils sehr konkreten Vorschlägen ließ sich kein „Königsweg“ finden. Aber das war wohl auch allen Beteiligten im Vorhinein klar gewesen. Sehr deutlich formuliert wurde aber, dass die deutschen säkularen Verbände sich klarer gegen den Einfluss der islamischen religiösen Rechten positionieren sollten, anstatt aus Furcht vor dem Rassismusvorwurf den Kopf einzuziehen und die Säkularen im Exil vorzuschicken. „Sonst führen wir nicht denselben Kampf“, hielt Naïla Chikhi ihren in Deutschland geborenen Mitstreiter:innen entgegen. Es sei falsch, die Probleme gewissermaßen an die Eingewanderten zu delegieren und von ihnen Lösungen zu erwarten, anstatt gemeinsam nach Wegen zu suchen, die Gesellschaft zu verändern meinte auch Alia Ahmad.

Und: Eine politische Strategie müssen an der konkreten Situation der Betroffenen ansetzen (die Probleme, die Leila aus Neukölln mit Religion hat, lösen). Dass die Schule hier ein wichtiges Handlungsfeld darstellen wird, war Konsens. Häufig lägen die Schwierigkeiten auf der praktischen Ebene. Dies zeige sich beispielsweise an der Istanbul-Konvention. Zwar sei diese in Deutschland für Asylbewerberinnen nur unter Vorbehalt anwendbar, an sich aber ein gutes Instrument. Da die Umsetzung in der Praxis jedoch nicht richtig funktioniere, bleibe ihre tatsächliche Wirksamkeit für Frauen sehr eingeschränkt.

Unmissverständlich kam am Ende das Bedürfnis zum Ausdruck, dass die Tagung nicht nur dokumentiert werden sollte, sondern auch – dann möglichst in breiterem Rahmen – eine Fortsetzung finden sollte. Als Fazit formulierte Nicole Thies, die in beiden beteiligten Vereinen im Vorstand tätig ist: „Wir haben nicht auf alle drängenden Fragen eine Antwort gefunden. Aber wir haben den Anfang gemacht, um politische Veränderungen herbeizuführen.“