Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/23 | Geschrieben von Thomas Waschke

Was kann die Erweiterte Evolutionäre Synthese leisten?

Teil 9: Ein vorsichtiger Blick in die Zukunft

In den bisherigen Beiträgen wurden die Inhalte der Modernen Synthese (MS) sowie die der Erweiterten Synthese (ES) dargestellt. Zuletzt wurde diskutiert, welche Kriterien eine potenzielle Alter­native erfüllen muss, um das Standardmodell ablösen zu können. Im letzten Teil der Serie soll es darum gehen, ob und wenn ja, welches der beiden konkurrierenden Theoriemodelle sich perspektivisch durchsetzen wird bzw. wie sinnvoll eine ‘Wachablösung’ der Modernen Synthese durch die Erweiterte Synthese aus Sicht des Autors ist.

Aus der Sicht der Vertreter der Erweiterten Synthese tragen die gegen Ende des vorigen Teils dieser Artikelserie aufgelisteten Einwände von Vertretern des aktuellen Standards, der Modernen Synthese, aus nachvollziehbaren Gründen nicht. Ein wichtiger Aspekt der Arbeiten der Vertreter der ES bestand schon immer in wissenschaftshistorischen und -theoretischen Untersuchungen der Entwicklung der Evolutionstheorie im Lauf der Zeit, in denen sich diese Autoren auf einschlägige Fachliteratur bezogen. Der Vorwurf, dass ein Zerrbild der MS gezeichnet wird, lässt sich daher, zumindest pauschal, nicht rechtfertigen.

Wenig relevant ist auch die Andeutung, dass die ES außerwissenschaftliche Auffassungen wie die Intelligent Design-‘Theorie’ unterstützen würde. Es trifft zwar zu, dass Intelligent Design-Vertreter mit Argumenten der ES gegen die Möglichkeit einer naturalistischen Evolution argumentieren, was aber eher gegen den Willen deren Vertreter geschieht. Die Argumentation der Vertreter der ES erfolgt auf der Basis der üblichen Vorgehensweise der Naturwissenschaften.
Wesentlich gewichtiger ist die Behauptung, dass alle vorgeblichen Erweiterungen, die von der ES vorgeschlagen werden, im Konzept der MS schon, wenn auch meist unter anderen Bezeichnungen, berücksichtigt wurden, was durchaus auch zu Erweiterungen der Theorie geführt habe.
Aus der Sicht der ES ist das nicht geschehen. Die Grundpfeiler der ES, die in dieser Serie schon besprochen wurden, wurden von der MS nicht als Evolutionsfaktoren, sondern nur als mehr oder weniger bedeutsame Nebenaspekte angesehen, also nicht wirklich in das Theoriegebäude integriert.
Übereinstimmung zwischen Vertre­tern der beiden Theorien besteht darin, dass die MS von nur vier grundsätzlichen Evolutionsfaktoren ausgeht: Natürliche Selektion, Drift (das sind Veränderungen, die zunächst keinen Selektionswert haben, sie können sich zufällig in der Population ausbreiten), Mutation einschließlich Rekombination (neue Gene oder neue Kombinationen schon vorhandener Gene) und Genfluss (Austausch von Genen zwischen Populationen von Organismen, beispielsweise durch Zu- oder Abwanderung). Letztlich beeinflussen alle diese Prozesse die Ebene der Gene und sind der Grund dafür, warum die MS als ‘genzentriert’ beschrieben wird. Bis auf die Selektion handelt es sich um Zufallsprozesse, daher kommt der Selektion eine zentrale Rolle als einziger richtender Faktor zu (die MS ist ‘selektionistisch’).
Die Vertreter der ES erkennen diese Evolutionsfaktoren an, bestreiten aber, dass durch diese alle Phänomene der Evolution erklärt werden können, letztlich, weil die Ebene des Organismus und dessen Individualentwicklung, nicht beachtet wird. In der ES wird die MS dadurch integriert, dass die Grundpfeiler der ES als weitere Evolutionsfaktoren sozusagen den Input für die ‘klassischen’ Evolutionsfaktoren liefern. Darüber hinaus wird angenommen, dass Organismen die Möglichkeit haben, ihre Umwelt aktiv zu gestalten und die Selektion zu beeinflussen.
Einig sind sich beide Seiten auch darin, dass auf der Basis von experimentell ermittelten Daten argumentiert werden muss. Derartige Untersuchungen wurden und werden von Vertretern der ES unternommen.

Wie kann durch Experimente entschieden werden, welche Theorie korrekt ist?

Das Verständnis der Ergebnisse der tatsächlich durchgeführten Experimente erfordert viel biologisches Fachwissen, das hier nicht vorausgesetzt werden soll. Zur Veranschaulichung der grundsätzlichen Methodik der Experimente wird daher ein einfaches technisches Beispiel betrachtet. Eine Klimaanlage hält die Temperatur in einem Raum konstant, obwohl sich die Temperatur in der Umgebung ständig ändert. Die gewünschte Raumtemperatur wird durch entsprechenden Einsatz einer Heizung und einer Kühlung erreicht. Die zu- oder abgeführte Wärmemenge lässt sich durch die Dauer der Aktivität des jeweiligen Elements bestimmen. Der regulierte Raum würde einem Organismus entsprechen, der sich an die Umwelt anpasst.

Aus der Sicht der MS wäre der Raum passiv der Umwelt ausgesetzt. In regelmäßigen Abständen wird die Raum­temperatur kontrolliert. Wenn diese beispielsweise unter dem gewünschten Wert liegt, muss die Heizung kurz eingeschaltet werden. Dadurch darf die Raumtemperatur aber nur um einen geringen Wert erhöht werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass der Raum zu warm wird. Wenn als Reaktion dann eine starke Kühlung einsetzt, wird der gewünschte Wert weit unterschritten und so weiter. Es ist nicht zu erwarten, dass sich der gewünschte Wert jemals einstellt. Die Änderung darf daher nur in kleinen Schritten erfolgen, was dem Konzept des Gradualismus, einem zentralen Element der MS entspricht. Zudem ist das System dem Einfluss der Umgebungstemperatur unterworfen, ohne direkt darauf zu reagieren. Das entspräche dem Externalismus der MS.
Aus der Sicht der ES hingegen wäre der Raum aktiv in seine Umwelt eingebunden. Das System verfügt über einen Sensor, der die Außentemperatur misst und so die relative Leistung der Heizung oder der Kühlung anpassen kann. Wenn eine große Differenz zwischen der gewünschten Temperatur und der Umgebungstemperatur vorliegt, wird entsprechend stark gekühlt oder geheizt, es kann also sinnvoll sein, bei Bedarf auch eine große Änderung zu verursachen. Anstelle vieler kleiner Schritte reichen nur wenige größere aus. Dieses System ist den Auswirkungen der Umwelt nicht nur passiv ausgesetzt, sondern reagiert in gewissem Sinn aktiv. Die Möglichkeit zu großen Schritten entspricht dem Konzept des Saltationismus, der der MS wesensfremd ist.
Angenommen, man würde auf einem fremden Planeten regulierte Räume finden. Aus irgendwelchen Gründen sei es nicht möglich, das System an sich zu untersuchen, man kann nur die Änderung der Temperatur messen. Dennoch könnte man darauf schließen, ob das System nach dem ersten Prinzip (nur Messung der Innentemperatur) oder nach einer komplexeren Methode arbeitet. Misst man immer nur kleine Veränderungen der Raumtemperatur, so spricht das eher für das erste Verfahren, misst man auch große, muss ein komplexeres System vorliegen.
Nach dieser Logik sind die For­schungsprogramme, die von der ES in Gang gesetzt wurden, aufgebaut. Zunächst wurden aus den zentralen Elementen der beiden Theorien Vorhersagen abgeleitet. Ein Beispiel wäre im Rahmen der MS die Forderung, dass alle Veränderungen in kleinen Schritten erfolgen müssen, während die ES davon ausgeht, dass auch große Veränderungen möglich sind. Durch Beobachtungen oder Experimente wird dann geklärt, welche der beiden Vorhersagen eintrifft.
Die Vertreter der ES haben auf der Basis derartiger Überlegungen einen Vergleich der Vorhersagen der beiden Konkurrenten für verschiedene Bereiche erstellt. In einem zweiten Schritt wurden experimentelle Ansätze entwickelt, die es ermöglichen, zwischen den beiden Modellen zu unterscheiden oder zumindest Argumente für oder gegen ein Modell zu gewinnen. Wie schon beschrieben wurden die von der Templeton-Stiftung zur Verfügung gestellten Forschungsmittel dazu ver­wendet, derartige Experimente zu­mindest in Angriff zu nehmen. Die Ergebnisse konnten in üblichen Pub­likationsorganen veröffentlicht werden, was bedeutet, dass diese Arbeiten und deren Interpretation von der Fachwelt als methodisch korrekt eingeschätzt wurden. Diese Ergebnisse waren aus der Sicht der ES zumindest ermutigend. Viele Projekte laufen weiter, auch weil weitere Förderungsmittel in Aussicht stehen.

Wird die ES neuer Standard?

Aktuell ist noch nicht abzusehen, welche Rolle die ES in Zukunft spielen wird. Auf der einen Seite existieren vielversprechende Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen. Ein Rahmenkonzept ist nicht nur in Ansätzen zu erkennen und die neue Sicht auf die Evolution ist durchaus in der Lage, Erklärungen für Phänomene zu finden, welche im Rahmen der MS nicht möglich wären. Auf der anderen Seite muss die experimentelle Forschung, die auf diesen Modellen aufbaut, noch erweitert werden und weitere Befunde erbringen, welche im Rahmen der MS nicht erklärt werden können.

Schon jetzt hat sich gezeigt, dass es einfach nicht zutreffend ist, dass die von der ES angeführten Mechanismen schon in die MS integriert sind und es daher nicht gerechtfertigt sei, den Standard infrage zu stellen. Es gibt schon hinreichend aussagekräftige Befunde, die zeigen, dass bestimmte Phänomene, die teilweise in vorigen Beiträgen dieser Serie geschildert wurden, den Rahmen der Erklärung der MS sprengen und durch die umfassendere Sicht der ES besser erklärt werden können.
Sollten sich die theoretischen An­nah­men umfassend durch die Daten erhärten lassen, hat die ES durchaus das Potenzial, den aktuellen Standard abzulösen, was einer wissenschaftlichen Revolution entsprechen würde. Der MS wäre dann ein ähnliches Schicksal beschieden wie der Newton-Mechanik in der aktuellen Physik: Sie wäre zwar für einen bestimmten Teilbereich immer noch der Standard, kann aber viele wichtige Phänomene nicht erklären, für die dann die Konzepte einer umfassenderen Theorie zwingend erforderlich sind. Die Grundlagen des bisherigen Modells wären zumindest unvollständig, wenn nicht sogar falsch. Im genannten Beispiel aus der Physik waren das die bisher als gültig angenommene Absolutheit von Raum und Zeit, die Relativitätstheorie konnte aber zwingend zeigen, dass diese relativ sind.
Hinsichtlich MS würde das bedeuten, dass sich eine Evolutionstheorie nicht sinnvoll auf Betrachtungen auf der Ebene der Verteilung der Gene in Populationen im Lauf der Zeit formulieren lässt. Der zentrale Aspekt der MS würde so hinfällig, selbst wenn es immer noch Bereiche gäbe, in denen er gilt. Auch hier ist das Beispiel aus der Physik hilfreich: Für die meisten praktischen Berechnungen kann man problemlos die Formeln der Newton-Mechanik verwenden, obwohl es wichtige Ausnahmen gibt. Das würde dann auch für bestimmte Bereiche wie die Erklärung von Artbildung oder Anpassung gelten, aber nicht mehr für umfassendere Fragestellungen. Die MS hätte dann ihre Rolle als Standard verloren.
Plausibler ist, dass sich zeigen wird, dass den Mechanismen der MS, vor allem hinsichtlich der Bedeutung der Weitergabe von Genen, immer noch eine zentrale Rolle für die Erklärung der wichtigsten Phänomene in der Evolution, vor allem der Anpassung und der Artbildung, zukommt. Die zusätzlichen Mechanismen der ES müssten dann zwar berücksichtigt werden, aber mehr im Sinne eines Rahmens, in den mögliche Erklärungen einzubetten sind. In diesem Fall wäre die ES, wie auch ihr Name besagt, eine wichtige Erweiterung des bisherigen Standards. Erklärungen auf der Ebene der Weitergabe von Genen wären zwar immer noch zentral für die Erklärung der wichtigsten Phänomene, aber eben nicht mehr hinreichend, vor allem, wenn es um die Entstehung von Neuheiten geht. Die MS bliebe dann aber immer noch der Standard.
Die Zukunft wird zeigen, welche der beiden plausiblen Alternativen korrekt ist. Wichtig ist, dass die Entscheidung nur durch die Ergebnisse experimenteller Forschung nach allgemein anerkannten Regeln erfolgen kann.
Im Sinne des Bestrebens nach einem tieferen Verständnis der Prozesse in der Natur ist auf jeden Fall zu begrüßen, dass durch eine Gruppe von Forschern versucht wird, eine umfassendere Evolu­tionstheorie zu formulieren und zu testen. Auf jeden Fall sollte der neue Ansatz eine faire Chance bekommen und nicht durch irgendwelche sachfremden Überlegungen wie Status-Denken oder anderen eigenen Interessen behindert werden.