Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 2/23 | Geschrieben von Friedrich Coradill

Ablösung der Staatsleistungen

Im Rahmen der Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen wird immer wieder über Entschädigungszahlungen gesprochen und wie diese angeblich zu begründen sind. Dass diese aus mehrfachen Gründen nicht gerechtfertigt sind, wird nachfolgend dargestellt.

1789 begann die Französische Revolu­tion gefolgt von einigen Kriegen und Kampf­handlungen. Das Ganze endete 1801 mit dem Frieden von Lunéville. Die französische Revolutions­armee hatte da bereits den gesamten linksrheinischen Teil des Heiligen Römischen Reiches besetzt. Damit gab es die drei geistlichen Kurfürstentümer Mainz, Trier und Köln nicht mehr. Bestätigung fand dies 1803 durch den Reichstag in Form des Reichsdeputationshauptschlusses (RDHS).

Inhalt und Zweck des RDHS

Durch die Beschlüsse und den RDHS wurden die Herrschaftsgebiete der großen Königreiche „arrondiert“, zu Lasten der kleinen, teilweise kirchlichen aber auch rein weltlichen Territorien, wie etwa der freien Reichsstädte. Diese Beschlüsse reduzierten die mehr als tausend Herrschaftsgebiete im Alten Reich auf einen Schlag auf zweiunddreißig.

Die Kirchen wurden damals meist nicht enteignet, da sie überwiegend gar nicht die Eigentümer der Ländereien waren. Man nahm ihnen lediglich Herrschaften weg, aus denen sie Ein­nahmen generierten. Als Ausgleich für diese Verdienstausfälle wurden jährliche Entschädigungsleistungen gezahlt. Diese Zahlungen wurden meist als Alimente an konkrete geistliche Personen festgelegt, sollten aber nur bis zu deren Lebensende gezahlt werden. Der Entzug und die Neuvergabe dieser Lehen war ein legitimer Vorgang, der historisch immer schon selbstverständliches Recht der Lehensgeber gewesen war.
Im § 50 des RDHS steht:
„Den sämtlichen abtretenden geistlichen Regenten ist nach ihren verschiedenen Graden auf lebenslang eine ihrem Range und Stande angemessene freie Wohnung mit Meublement und Tafelservice, auch den Fürstbischöfen und Fürstäbten des ersten Ranges ein Sommeraufenthalt anzuweisen; wobei sich von selbst versteht, dass dasjenige, was ihnen an Meublen eigenthümlich zugehört, ihnen gänzlich überlassen bleibe, das aber, was dem Staate zugehört, nach ihrem Tode diesem zurückfalle.“
Diese Säkularisation (Einziehung und Neuvergabe kirchlicher Lehen an weltliche Herrscher) war also kein kirchenfeindlicher Akt. Zum Vergleich: Die über 300 reichs­unabhängigen Reichs­ritter wurden erst 1805 im Frieden von Preßburg mediatisiert (Einziehung und Neuvergabe weltlicher Lehen), ebenfalls unter lebenslanger Wahrung ihrer gesellschaftlichen und persönlichen Rechte, aber – im Unterschied zu den Kirchen – entschädigungslos.
Schon durch diese Ungleich­behand­lung könnte man die Zahlungen und darauf aufbauende Ablösungen an die Kirchen als nicht rechtmäßig einstufen.

Verfassungstexte

1919, also nach 116 Jahren und somit offensichtlich nach dem Ableben aller kirchlichen Begünstigten von 1803, wurde im Artikel 138 Absatz 1 der WRV festgelegt:

„Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religions­ge­sellschaften werden durch die Landes­gesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“
Zeitgleich wurde im Artikel 137 Absatz 6 WRV den Kirchen das Recht eingeräumt, von ihren Mitgliedern eigene Steuern zu erheben, um damit finanziell unabhängig von staatlichen Zuweisungen zu werden. Diese Unabhängigkeit wurde schon vor Jahrzehnten erreicht, und bis in die heutige Zeit stetig gefestigt. Um die Verhältnisse zu verdeutlichen: 2022 beliefen sich die Staatsleistungen auf ca. 600 Mio. Euro, die Einnahmen durch die Kirchensteuer hingegen auf knapp 13 Mrd. Euro, also auf mehr als das 20-Fache. Insgesamt machen die Staatsleistungen heute lediglich noch 2,2 % der kirchlichen Gesamteinnahmen aus. Die Kir­chensteuer als finanzieller Ersatz wäre ein zweiter Grund, die Staats-
leistungen sofort und ohne Ent­schä­digungen einzustellen.
Geschehen ist bis zur Gründung der Bundesrepublik trotz erster Initiativen in den 1920er Jahren nichts. Daher wurde 1949 das Ablösegebot des Artikel 138 Absatz 1 WRV durch den Artikel 140 des Grundgesetzes (GG) zum Bestandteil unserer heutigen Ver­fassung. Bis 2021 hat sich daran weder etwas geändert noch wurde politisch ernsthaft darüber diskutiert.
So kam es, dass aufgrund der Untätigkeit der Politik bis Ende 2022 insgesamt knapp 21 Mrd. Euro gezahlt wurden. Angefangen mit 23 Mio. Euro im Jahr 1949 bis hin zu gut 600 Mio. Euro 2023.

Aktuelle Gesetzentwürfe

Im Jahre 2021 wurde ein Gesetzentwurf der drei damaligen Oppositionspartei­en (Die Grünen, FDP und Die Linke) zur Ablösung der Staatsleistungen im Bun­destag abgelehnt.

Im aktuellen Koalitionsvertrag der drei Regierungsparteien wurde festgeschrieben:
„Wir schaffen in einem Grund­sätze­gesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen.“
Es liegt nahe, dass sich der neue Gesetzentwurf und der aus 2021 vermutlich nur unwesentlich unterscheiden. Von der Einbeziehung der Kirchen bei der Erstellung des Gesetzentwurfs ist in der WRV im Übrigen überhaupt nicht die Rede.
Das geplante Gesetz enthält einige krasse Fehler, die offenbar bewusst in Kauf genommen werden, um den Kirchen ein großzügiges Aus­stiegsgeschenk zu generieren. Nach­folgend einige Beispiele:

1. Angesichts dessen, dass die Ablösung der Staatsleistungen ein nicht vergleichbarer Vorgang ist, muss die Anwendung des Bewertungsgesetzes, aus dem als Ablösezahlung der Faktor 18,6 der letzten jährlichen Zahlung abgeleitet wird, was eine Zahlung von ca. 11 Mrd. Euro bedeuten würde, in Frage gestellt werden. Selbst wenn man das Gesetz anwendet, ist ein Ablösefaktor von lediglich 9,3 anzusetzen, da die Leistungen endlich sind. Das würde nach dem aktuellen Entwurf bereits eine Einsparung von 5,5 Mrd. Euro bedeuten.

Die bisher zu viel gezahlten 21 Mrd. Euro, also das Doppelte der geplanten Ablösung, sind ein weiterer Grund, eine Ablösezahlung abzulehnen.

2. Die mittlerweile im Raum stehenden Forderungen der Politik des 40- bis 50-Fachen der letzten jährlichen Zahlung entbehren jeder Grundlage.

3. Nach mehr als 100 Jahren ist der Bezug auf das Jahr 2023 falsch. Wenn man eine Ablösung zahlt, ist das Jahr 1919 oder alternativ die Jahre 1947-49, also ca. 23 Mio. Euro, zu Grunde zu legen. Damit läge die Ablösung lediglich bei gut 400 Mio. Euro.

4. Nicht alle Staatsleistungen sind auf sog. „Enteignungen“ zurückzuführen.

Im Bundesland Mecklenburg-Vor­pommern z.B. fanden gar keine „Ent­eignungen“ statt. Hier wurden die Staatsleistungen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Besoldungszuschuss für die Kirchenbeamten vom damaligen Großherzog eingeführt. Das Land zahlt trotzdem 2023 insgesamt 14,6 Mio. Euro an die Kirchen. Damit müsste das Bundesland eine Ablösung von 270 Mio. Euro zahlen, die in keiner Weise gerechtfertigt ist. Bevor die Kirchen überhaupt Ent­schädigungen fordern, sollten sie – wie es auch in Prozesssituationen üblich wäre – belegen, dass überhaupt ein Anspruch besteht.

5. Wenn man solche Ablösungen vernünftig abwickelt, sollten ein bis zwei Jahre für die Verabschiedung eines Landesgesetzes und weitere zwei bis drei Jahre für den Ausstieg aus den Zahlungen mehr als ausreichend sein. Die geplanten 5+20 Jahre sind weder gerechtfertigt noch notwendig. Das würde bis zu 17,5 Mrd. Euro an Weiterzahlungen einsparen.

Aktueller Stand des Gesetzentwurfs

Unter Leitung einer Abteilung des Innenministeriums wurden seit August 2022 Gespräche mit Bund, Ländern und den Kirchen geführt. Die genauen Inhalte sind nicht bekannt, ein entsprechendes Auskunftsgesuch nach dem Informationsfreiheitsgesetz wurde abgelehnt, eine diesbezügliche Klage ist anhängig.

Anfang April 2023 wurde bekannt, dass die Verhandlungen gescheitert seien, weil die Länder angeblich die Kosten für die Ablösung nicht tragen können. Diese Annahme ist jedoch falsch.
Wenn die Länder nach fünf Jahren, also Ende 2028, aussteigen würden, belaufen sich im Worst Case die Ablösekosten, wie oben ausgeführt, auf 11,3 Mrd Euro.
Diese Summe könnte man durch einen Kredit mit einer Laufzeit von z.B. 20 Jahren finanzieren.
Dem gegenüber belaufen sich die Kosten für eine Weiterzahlung der Staatsleistungen über einen Zeitraum von 20 Jahren (2029–2048) auf 17,5 Mrd. Euro. Das sind 6,2 Mrd. Euro mehr. Selbst unter Einrechnung der Zinsen für einen solchen Kredit dürfte ein zeitnaher Ausstieg für die Länder günstiger sein, als die Weiterzahlung.
Warum blockieren die Bundesländer also das Grundsätzegesetz? Man könnte zu dem Schluss kommen, dass das alles eine abgesprochene Inszenierung ist:

– Der Bund schaut auf die Länder und sagt: „Wir hätten das Gesetz ja auf den Weg gebracht...“.
– Die Länder schauen auf den Bund und sagen: „Wenn der Bund den Ausstieg nicht so teuer gemacht hätte, wären wir ja mitgegangen...“.

Keiner will daran schuld sein, und die Staatsleistungen fließen noch viele Jahre weiter, bis der Vorgang, wenn überhaupt, erneut aufgegriffen wird.

Fazit

Wäre man professionell vorgegangen, hätte der Bund zunächst ein Konzept erarbeitet, wie man möglichst kostengünstig und schnell die Staats­leistungen abwickeln kann. Erst danach wäre eine Anhörung (und keine Verhandlungsgespräche) der Kirchen und Länder angebracht gewesen. Letztlich ist es allein die Aufgabe des Bundestages, als unabhängigem und ehrlichem Vermittler, die Grundsätze für eine angemessene Ablösung der vorkonstitutionellen Staatsleistungen aufzustellen. Eine Beteiligung der betroffenen Kirchen und Länder war von den Verfassungsgebern nie vorgesehen.

Künftig müssen bei solchen Ver­handlungen jedenfalls auch konfessionsfreie Vertreter mit am Tisch sitzen, da die Staatsleistungen und deren Ablösung von allen Steuerzahlern getragen werden. In Deutschland sind aktuell nur noch 47,5 % der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden christlichen Großkirchen.