Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 2/22 | Geschrieben von Lale Akgün

Was trennt uns wirklich?

Ferda Ataman zeigt ein oberflächliches Verständnis 
von Diskriminierung

„Alle brauchen eine Ferda Ataman“, hieß es in der Pressemitteilung der Neuen deutschen Medienmacher*innen. Der Grund für diese euphorische Feststellung: Ferda Ataman, die ehemalige langjährige Vorstandsvorsitzende, war am 7. Juli als neue Unabhängige Bundes­beauftragte für Antidiskriminierung gewählt worden. Nun, wer immer auch mit „alle“ gemeint war, Fakt ist: nicht „alle“ sahen es so. Die journalistische und aktivistische Anti-Diskriminierungspolitik von Ferda Ataman war für mehr als einige polarisierend und einseitig.

Besonders im Fokus des Interesses: die Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung. Sie ergriffen das Wort und schrieben in einem offenen Brief, dass Ferda Ataman die Diskriminierung innerhalb der migrantischen Communities übersehe und sich letztendlich nur auf die Diskriminierung der muslimischen und türkischen Minderheit konzentriere. In Ferda Atamans Welt sei die Diskriminierung vor allem die ethnisch-religiöse. Und da sind in erster Linie die Kinder der Gastarbeiter und Flüchtlinge ihre Zielgruppe. Natürlich werden diese Menschen diskriminiert. Niemand zweifelt daran. Aber nicht nur sie. Es gibt eben auch andere Gruppen, die der Diskriminierung ausgesetzt sind. Das Ziel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ist es, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen“. Oft genug haben Menschen mehrere dieser Merkmale. Aber wesentlich sind zwei Faktoren, die im AGG nicht aufgeführt sind: Armut und fehlende Bildung. Sie bedingen einander und sind Querschnittsfaktoren beim Thema Diskriminierung. Armut bedeutet Benachteiligung, fehlende Teilhabe am Leben.

Deutschland ist ein Land, in dem sich der soziale Aufstieg immer schon schwierig gestaltet hat. War es ab der Mitte der 1960er Jahre noch die „katholische Arbeitertochter vom Lande“ – wie von Ralf Dahrendorf geprägt –, die zum Sinnbild der Mehrfachdiskriminierung wurde, ist es seit den 1990er Jahren der „orthodox-muslimische Arbeitersohn aus dem Brennpunkt der Großstadt“, der es schwer hat, gesellschaftlich aufzusteigen. Das zeigten die PISA-Studien bereits 2001. Aber auch PISA 2018 verdeutlicht, dass sich die Schere zwischen der Leistung von Kindern aus wohlhabenden und benachteiligten Familien nicht geschlossen hat. Während beispielsweise 28 Prozent der Kinder aus den begünstigten Schichten zu den leistungsstärksten Schülern und Schülerinnen zählen, traf dies auf nur 3 Prozent der Kinder zu, die aus benachteiligten Haushalten stammten. Das ist eine Diskriminierung, die sich über Generationen fortpflanzt. Da anzusetzen, hieße wirklich strukturelle Diskriminierung auszuhebeln.

Wer sich auf den Seiten des Mi­nisteriums für Bildung und Forschung umschaut, wird zu dem Thema PISA - internationale Schulleistungsstudie folgendes lesen:

„Nach dem ‘PISA-Schock’ 2001 gehörte Deutschland zu den wenigen Staaten, die sich kontinuierlich verbessert haben – wenngleich seit PISA 2012 die Ergebnisse stagnieren bzw. rückläufig sind. Das hängt auch damit zusammen, dass Bund und Länder eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht haben, die etwa leistungsschwache Schülerinnen und Schüler UND Kinder mit Migrationshintergrund gezielt fördern, oder die zum Lesen animieren, den Mathematikunterricht verbessern und die Lehrerausbildung modernisieren sollen.“

Das ist deswegen besonders erwähnenswert, weil hier verräterisch Migra­tionshintergrund mit leistungs­schwach gleichgesetzt wird. Ja, Migranten können zu den Leistungsschwachen zählen. Sie müssen aber nicht.

Es wird weder thematisiert, dass es erst durch eine Wechselwirkung zwischen Migration, fehlender Bildung und Armut zu fehlenden Leistungen kommt, noch, dass der Staat seine Aufgabe wahrnehmen müsste, den Gap zwischen armen und wohlhabenden Schülern zu schließen. So eine schiefe Wahrnehmung muss man sich als Ministerium leisten können. Aber – es ist Mainstream.

Gut jede vierte Person in Deutschland hatte 2021 einen Migrations­hintergrund, die Bevölkerung mit Mi­grationshintergrund wuchs 2021 um 2,0 % auf 22,3 Millionen Menschen. Von welcher Gruppe reden wir? Was ist Migrationshintergrund? Wer von den Migranten ist wirklich benachteiligt? Und wie? Vielleicht sollte sich das Bildungsministerium die Statistiken anschauen und sich Gedanken darüber machen.

Die Gleichsetzung von leistungsschwach und Migrationshintergrund ist allerdings so verbreitet, dass es niemand mehr als falsch und diskriminierend begreift. Stattdessen eine paternalistische Anti-Diskriminierungspolitik.

Das muss man wissen, um zu verstehen, warum Ferda Ataman eine so genehme Beauftragte für Antidiskriminierung ist. Sie hat den Nerv der Teile der Mehrheitsgesellschaft getroffen, die sich mit der Diskriminierung gern auf oberflächliche Weise beschäftigen. Sich lieber mit Details abgibt als mit der großen Linie. Und die vorzugsweise dort Rassismus und Diskriminierung wittert, wo unterschiedliche Welten der Migranten aufeinanderstoßen.

Die Migranten sind in den Augen der meisten eine große, orthodox-mus­limische, ungebildete und benachteiligte Gruppe, die man wohlwollend unterstützen, aber gleichzeitig konservieren muss. Ihre Andersartigkeit – sei es „die Religion“ oder „die Kultur“ – bereichert (natürlich aus der Ferne) die gutmeinenden UnterstützerInnen in Politik und Gesellschaft. Eine Art Folkloregruppe für die Seele und das gute Gewissen.

Wie sagt Nettchen in der Novelle Kleider machen Leute, erschienen 1874, nach Strapinskis Gesang: „Ach, das Nationale ist immer so schön!“

Gruppen wie die Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung stören die Pseudo-Einigkeit. Weil sie aufzeigen, dass das Nationale nicht immer schön ist. Dass auch innerhalb der Migrantengruppen unterschiedlichste Weltanschauungen, Ideologien, Meinungen herrschen. Mit ihrem Vorhaben, für die religiöse und nichtreligiöse Diversität innerhalb der Migrantengruppen zu stehen und nicht mehr die Gruppe, sondern das Individuum in den Mittelpunkt des Denkens zu stellen, verstören sie die Wahrnehmung des Migranten in Deutschland. Und sie verstören diejenigen, die meinen, für die Migranten sprechen zu dürfen. Jede Kritik an der Herkunftskultur wird als Nest­beschmutzung, jede Kritik an der Her­kunftsreligion, hier: Islam als Muslim­feindlichkeit ausgelegt. Und wenn Journalistinnen wie Ferda Ataman ins gleiche Horn blasen, dann umso besser.

So gesehen, ist es nicht verwunderlich, dass ausgerechnet jene Gruppen und Vereine Ferda Ataman unterstützen, die es sich zum Beruf gemacht haben, sich für migrantische Gruppen einzusetzen. Gemeinsam will man sich die Definitionsmacht über diesen Bereich erhalten und für die Lösungen zuständig sein.

Ihre Vorhaltungen, die kritischen Stimmen innerhalb der islamisch-orientalischen Community – denn nur von dieser ist die Rede, wenn in der Öffentlichkeit von Migranten gesprochen wird – würden den „Deut­schen“ nach dem Mund reden, geht ins Leere. Warum redet man der Mehr­heitsgesellschaft nach dem Mund, wenn man sich als Atheist oder als Kritiker des Patriarchats outet?

Vor 30 Jahren sagte mir ein liberaler türkischstämmiger Journalist, wenn er vor dem Dom in Köln eine Demonstration von Milli Görüs für Kopftücher in der Schule sehen würde, würde er sich sofort anschließen. Schließlich sei sein Platz hier in der Diaspora bei seinen Landsleuten, ganz gleich welcher politischen Richtung sie auch angehören würden. Er war bereit, seine Weltanschauung der Gruppe „seiner Landsleute“ zu opfern. Landsleute? Da halte ich es mit Robert Musil, der in einem Aufsatz sich die Frage stellte, wer ihm näher sei; ein deutscher Bauer oder ein französischer Intellektueller. Er kam zu dem Schluss, dass der französische Intellektuelle seine Gedanken, Vorstellungen und Wünsche teilte und somit ihm viel näher war als der deutsche Bauer. Vielleicht sollten wir uns mehr mit der Idee beschäftigen, was uns verbindet. Wir werden erst dann eine multikulturelle Gesellschaft, wenn die Mehrheitsgesellschaft die ethnisch-religiöse Brille und die Zugewanderten das ethnisch-religiöse Korsett ablegen und das in den Vordergrund stellen, was uns ausmacht. Ein Mensch zu sein. Und wenn dieser Mensch diskriminiert wird, von wem und aus welchem Grund auch immer, dann sollten wir alle dagegen aufstehen.