Wer anlässlich des Abtritts einer Regierungspartei mit „C“ im Namen die Hoffnung hatte, dass die Kirchenprivilegien auch angesichts einer wachsenden nichtreligiösen Bevölkerung nun grundsätzlich unter die Lupe genommen, sie in ihrem Kern hinterfragt und einem dringenden „Downgrade“ unterzogen würden, wird enttäuscht. Es ist ersichtlich, dass sich viele Politiker:innen mit dem Thema Religion nicht genug auskennen und sich auf eine wenig neutrale Expertise verlassen. So werden im neuen Koalitionsvertrag nicht nur viele „Religionsprojekte“ angeführt, sondern auch fortgeführt.
Kirchliches Arbeitsrecht
Noch am erfolgversprechendsten erscheinen die auf das kirchliche Arbeitsrecht zielenden Bestrebungen. Im Abschnitt „Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt“ ist hierzu zu lesen: „Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann. Verkündungsnahe Tätigkeiten bleiben ausgenommen.“ (S. 71) Natürlich ist es prinzipiell fragwürdig, wenn der Staat bei einer zivilgesellschaftlichen Organisation gewissermaßen anfragt, ob sie einverstanden wäre, dass staatliches Recht zukünftig zumindest teilweise auch in ihren Einrichtungen Anwendung findet. Die hier auffallend zurückhaltende Formulierung dürfte jedoch eher „diplomatischen“ Zwecken dienen, als auf mangelnden Veränderungswillen hindeuten. Denn alle drei an der Regierung beteiligten Parteien hatten diesen Punkt bereits in ihrem Wahlprogramm benannt, und in der Bevölkerung gibt es, bis weit hinein in kirchlich engagierte Kreise, Zustimmung in dieser Frage.
Kritisch könnte vermerkt werden, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in diesem Zusammenhang nicht genannt und das Thema unter der Überschrift „Mitbestimmung“ behandelt wird. Dies mag als Hinweis gewertet werden, dass bei den Überlegungen der Koalition das kollektive Arbeitsrecht (also Betriebsräte und Streikrecht) im Vordergrund steht und die Diskriminierung beispielsweise von Konfessionslosen in Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft letztlich unangetastet bleiben wird. Da aber gerade jene Fälle, in denen Konflikte mit den besonderen Loyalitätspflichten zur Kündigung führten (Wiederverheiratung nach einer Scheidung, offen gelebte Homosexualität, Religionswechsel usw.), immer wieder öffentliche Empörung hervorriefen, ist es eher unwahrscheinlich, dass bei einer Neufassung gesetzlicher Regelungen ausgerechnet dieser Aspekt ausgespart bleibt.
Denkbar ist allerdings, dass der Staat auf eine gesetzliche Regelung verzichtet und sich mit den Kirchen darauf einigt, dass diese öffentlichkeitswirksam eine Art „Selbstverpflichtung“ abgeben (wie im Fall der Konkordatslehrstühle in Bayern). Dann wäre im Einzelfall wenig gewonnen, weil die Betroffenen keinen wirklichen Rechtsschutz hätten. Zugleich wäre die Ideologie des „kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes“ zementiert und das Modell könnte als Blaupause hergenommen werden, weitere Religionsgemeinschaften de facto von der staatlichen Gesetzgebung auszunehmen. Dies ginge auch gut mit identitätspolitischen Vorstellungen zusammen, dass die Umsetzung staatlichen Rechts als Diskriminierung zu werten ist, wenn die eigene Identitätsgruppe betroffen wäre.
Insofern erscheint politischer Druck notwendig, um hier eine Regelung zu erreichen, die alle Menschen gleich behandelt und kirchliche Privilegien nachhaltig abschafft anstatt sie verbal maskiert auf andere Religionsgemeinschaften auszuweiten.
Staatsleistungen
Auch den Verfassungsauftrag, die Staatsleistungen abzulösen, hat die Koalition in ihre Vereinbarung aufgenommen: „Wir schaffen in einem Grundsätzegesetz im Dialog mit den Ländern und den Kirchen einen fairen Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen.“ (S. 111) Allerdings haben die Bundestagsdebatten zum fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf in der vergangenen Legislaturperiode (vgl. MIZ 1/21) gezeigt, dass hier die Probleme im Detail liegen und die Kirchenlobby zahlreiche Bremsklötze anlegen kann. Insbesondere die Frage einer „Entschädigung“ (wie hoch diese sein soll und wer sie bezahlen muss) stellt ein reales Hindernis dar, das dazu führen kann, dass kein Rahmengesetz zustande kommt.
Die Position der säkularen Verbände, dass es absurd genug ist, dass ein demokratischer Staat ein Jahrhundert lang für eine Entscheidung von Feudalherren gezahlt hat und folglich ein der Kirche etwa entstandener Schaden längst abgegolten ist, wird sich wohl nicht durchsetzen. Sie sollte aber gegen die im Raum stehenden Forderungen nach Ablösesummen im zweistelligen Milliardenbeträgen in Stellung gebracht werden.
Kooperatives Trennungsmodell
Sollte das diskriminierende kirchliche Arbeitsrecht abgeschafft werden und die Zahlung der Staatsleistungen ein Ende finden, wären dies tatsächlich Fortschritte. Was hingegen generell zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften vorgesehen ist, ist rückwärtsgewandt: „Wir entwickeln das Religionsverfassungsrecht im Sinne des kooperativen Trennungsmodells weiter und verbessern so die Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden. Dazu prüfen wir, ob hierfür Ergänzungen des Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften notwendig sind und erörtern dies in enger Abstimmung mit den betroffenen Kirchen und Religionsgemeinschaften. Neuere, progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften binden wir in diesen Prozess ein.“ (S. 111) Niemand sollte sich hier von den Begrifflichkeiten täuschen lassen: Hier wird nichts „weiterentwickelt“ im Sinne von „modernisiert“. Hier wird im wirtschaftlichen Sinne „entwickelt“: Das bestehende Modell, das die Kirchen gegenüber allen anderen zivilgesellschaftlichen Kräften privilegiert, wird beibehalten, jedoch die „Kooperation“ – im Sinne einer Unterstützung durch staatliche Mittel – auf muslimische Gemeinden ausgeweitet.
Angesichts der grundsätzlich konservativen Ausrichtung der Textstelle muss wohl auch die Absicht, prüfen zu wollen, ob „Ergänzungen des Rechtsstatus“ notwendig seien, dahingehend verstanden werden, dass nach Wegen gesucht wird, die Sonderrechte, die der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts mit sich bringt, auch muslimischen Gemeinden oder Verbänden zu eröffnen, die keine Kirchenstruktur aufweisen.
Die Formulierung, dass „neuere, progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften“ eingebunden werden sollen, würde in dem, was hinter der Formulierung vermutlich beabsichtigt ist, in der Tat einen Fortschritt darstellen. Sie weist deutlich darauf hin, dass die Zusammenarbeit der Kirchen mit Gruppierungen wie z.B. Ditib und IZH wie auch die Empfehlungen diverser, der religiösen Rechten zuzuordnenden Dialog-Partner durch die Kirchen an die Politik extrem kritikwürdig war und ist. Ein im Grunde ausländerfeindliches Vorurteil, ja ein verheerender Denkfehler besteht darin, dass „in Deutschland beheimatete“ islamische Gemeinschaften automatisch fortschrittlich seien. Zuletzt stellt sich hier aber auch die Frage, ob progressive religiöse Menschen eine Kooperation im genannten Sinne überhaupt gutheißen. Oft setzen sich gerade diese aufgrund ihrer Erfahrungen mit Fundamentalismus für eine strikte Trennung von Staat und Religion ein. Sie wollen ihre Religion selbstbestimmt ergreifen und leben, sehen sie als Privatsache an, wollen sich weder von religiösen Führern und Vorsitzenden noch von einer konservativen Community gängeln lassen.
Trippelschritte
Der Koalitionsvertrag zeigt, dass im Bereich Religion und Gesellschaft eine Debatte, ob es noch zeitgemäß ist, „Religionsgesellschaften“ anders zu behandeln als sonstige gemeinnützige Vereine, die gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen verfolgen, wohl nicht vorgesehen ist. Dies widerspräche freilich in eklatanter Weise dem Anspruch der Koalition, „jeglicher Diskriminierung“ entgegenzuwirken. Denn die Gewährung von Privilegien kann durchaus als Diskriminierung derjenigen gesehen werden, die diese Privilegien ohne nachvollziehbaren Grund nicht erhalten. Und immer weniger Menschen sind heute noch davon überzeugt, dass Religionen allein und auf besondere Weise zur Werte- und Demokratiebildung einer Gesellschaft beitragen. Noch in dieser Legislaturperiode wird die Zahl der Kirchenmitglieder unter die 50%-Marke sinken und noch in diesem Jahrzehnt höchstwahrscheinlich die Zahl der Nichtglaubenden die Zahl der Gläubigen übertreffen.
Angesichts dessen ist das Festhalten am Status quo bestenfalls mutlos zu nennen. Die im Vertrag angekündigten Schritte waren längst überfällig; es sind jedoch allenfalls Trippelschritte auf dem Weg in eine moderne demokratische Gesellschaft, in der alle Bürger:innen (und ihre Vereinigungen) gleich behandelt werden. Die anvisierte Ausweitung der Sonderbehandlung der Kirchen auf weitere religiöse Vereinigungen bedeuten sogar Schritte zurück.
Informationen
Frank Schwabe ist seit Januar der neue Beauf-tragte der Bundesregierung für weltweite Religionsfreiheit. Der evangelische Sozialdemokrat bringt Erfahrung im Bereich Menschenrechte mit, er engagiert sich seit längerem beispielsweise für türkische Oppositionelle.
Sein Vorgänger, der Unionsabgeordnete Markus Grübel, verstand sein Amt vor allem im Sinne eines Beschützers verfolgter Christen. Zwar erwähnt er in seinem Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit für das Jahr 2020 auch Fälle diskriminierter Atheisten, etwa in der arabischen Welt, wer sich hingegen die zahlreichen aktuellen Meldungen auf der Webseite durchsieht, findet fast ausschließlich Beispiele für die Verfolgung religiöser Minderheiten.
Es bleibt abzuwarten, ob Schwabe die Schwerpunkte seiner Arbeit anders gewichten wird.