Dass die Welt aus den Fugen geraten ist, lässt sich kaum leugnen. Die multiplen Krisen, mit denen wir zu kämpfen haben – Finanzkrise, Klimakrise oder auch die Flüchtlingskrise und, nicht mehr ganz so aktuell, die Corona-Pandemie –, stellen für alle Menschen eine existentielle Bedrohung dar.
Begleitet wird dieser andauernde Ausnahmezustand von gesellschaftlichen Verwerfungen. So werden immer öfter Zweifel an der Demokratie und den damit verbundenen Errungenschaften laut. Die Zahl der demokratisch verfassten Nationalstaaten nimmt weltweit ab. Gleichzeitig wächst die Zahl der Staaten, die autoritär geführt werden. Der Wunsch nach Autoritäten scheint, trotz der Erfahrungen aus dem 20. Jahrhundert, zuzunehmen. Diese Entwicklung stellt eine große Gefahr für Menschenrechte und Selbstbestimmung dar.
Eine Folge von Krisenerfahrungen ist, dass autoritäre Staaten, unter Zuhilfenahme demokratischer Instrumente, Grundrechte einschränken. Es werden Zweifel gesät: u.a. an demokratisch legitimierten Wahlen; an der Meinungsfreiheit; an den Medien; an den Erkenntnissen der Wissenschaft und der Wissenschaftsfreiheit. Außerdem werden Ängste geschürt und (innere wie äußere) Bedrohungen erzeugt. Auch werden längst überwunden geglaubte Weltbilder und Geschlechterzuschreibungen aus der Mottenkiste der Geschichte hervorgeholt. Die Mär des „Früher war alles besser!“ wird wie ein Mantra vor sich hergetragen.
Der Krisenzustand überrascht einerseits nicht, denn der globale Norden lebt seit Jahrzehnten auf Kosten des globalen Südens. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ist dramatisch. Dennoch ist der Ruf nach einem „Weiter so!“ lauter als die Unterstützung für diejenigen, die ein „Wir müssen handeln!“ fordern. Andererseits überrascht dieser Krisenzustand dann doch, denn mit der Hilfe der Wissenschaft, hat sich in den letzten Jahrzehnten ein unermesslicher Reichtum an Wissen angehäuft. Dieses Wissen könnte helfen, die Krisen abzuschwächen (z.B. Klimakrise) bzw. die reaktionären Weltbilder (z.B. Gender und reproduktive Rechte) zurückzudrängen. Warum ändert sich dann nichts?
Offenbar neigen Menschen auch im 21. Jahrhundert noch dazu, in Krisenzeiten auf zwei Dinge zu vertrauen: Erstens, dass auf noch so komplexe Probleme eine einfache Antwort möglich ist. Dazu greift viele Menschen auf Heilslehren zurück, die ihnen von Religionen, der Esoterik, der Psychoszene oder auch aus den Parawissenschaften angeboten werden. Zweitens braucht es einen Schuldigen, der für das Leid verantwortlich gemacht werden kann. Antisemitische und rassistische Verschwörungserzählungen haben daher in Krisenzeiten Hochkonjunktur.
Soweit so gut. Doch was haben diese Krisenszenarien mit dem Schwerpunktthema „Wissenschaftsfeindlichkeit“ in dieser MIZ-Ausgabe zu tun? Warum machen wir ein Heft zum Thema „Wissenschaftsfeindlichkeit?“
Die Fragen sind berechtigt. Lassen Sie es mich so formulieren: Wissenschaft und wissenschaftliches Denken bilden eine der wichtigsten Grundlagen für ein besseres Verständnis der Wirklichkeit – historisch wie auch aktuell. Egal, in welchen Bereich wir schauen: Politik, Kultur, Gesellschaft oder Umwelt. Überall dort, wo Wissenschaft ernsthaft und auf der Grundlage eines universalistischen Wissenschaftsverständnisses betrieben wird, tragen die gewonnenen Erkenntnisse zu einem demokratischen Miteinander bei. Dort, wo Wissenschaft Wissen schafft, und die Menschen Zugang zu Bildung haben, fallen weder Religionen noch Esoterik, weder Partikularismus noch Identitätsgeschwurbel auf fruchtbaren Boden. Auf Fakten und Tatsachen, begründetes und durch Evidenz getragenes politisches Handeln stärkt die Demokratie und macht sie resistent gegenüber Hass und Gewalt. Daher positioniert sich die MIZ-Redaktion klar gegen Wissenschaftsfeindlichkeit.
Dass die politisch Verantwortlichen aus der Sicht vieler Menschen keine zufriedenstellende Antwort auf bzw. Lösungen für die multiplen Krisen haben, schadet nicht nur der Gesellschaft und der Politik. Als „Schuldige“ für die Krisen wird auch die Wissenschaft und werden insbesondere Wissenschaftler*innen ausgemacht. Sie werden zu „Mittäter*innen“ erklärt. Bestes Beispiel ist das An-den-Pranger-Stellen von Forscher*innen in der BILD-Zeitung. „Die Lockdown-Macher“ titelte das Blatt im Dezember 2022 und setzte die mit Foto und Namen genannten drei Modellierer großer Gefahr aus.
Klar ist, dass wir bei der Erörterung des Themas nicht alle Aspekte berücksichtigen können. Uns geht es in erster Linie um zwei Dinge: Zum einen möchten wir einen Aufschlag zu dem Thema wagen, damit Sie, liebe Leser*innen, Denkanstöße erhalten. Und wir möchten Sie zum anderen dazu anregen, aus den eigenen Echokammern herauszutreten und mitzudiskutieren. In diesem Sinne, Geschichte wird gemacht!