MIZ: In der Pandemie gab es größere Proteste gegen eine im Raum stehende Impfpflicht. Richtete sich die Ablehnung nach Ihrer Einschätzung eher gegen die Verpflichtung oder gegen das Impfen an sich?
Natalie Grams: Die Ablehnung einer Impfpflicht hat sicherlich viele Gründe. Zum einen ist der Akt des Impfens nunmal ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und das muss gut begründet sein – gerade wenn es eine allgemeine Pflicht dazu geben soll. Die Gründe für die Corona-Impfung waren nicht für alle gleichermaßen nachvollziehbar. Dazu kam sicherlich eine Unzufriedenheit mit der Politik in der Corona-Zeit, was sich dann auch auf das Impfen durchgeschlagen hat im Sinne von: Hier hole ich mir meine Selbstbestimmung zurück! Für manche Menschen schienen die Impfstoffe auch zu neu und zu wenig gut untersucht, was sie dann speziell verunsichert hat. Prinzipiell bin ich selbst bei aller Überzeugung vom Impfen und dem Schutzgedankens des Impfens aber auch kein Fan der Impfpflicht. Ich finde, man kann und muss hier zur Vernunft nicht verpflichtet werden.
MIZ: Nun finden Impfungen seit über 200 Jahren Anwendung und können auf einige Erfolge verweisen. Welche Argumente wurden denn gegen eine Corona-Schutzimpfung angeführt?
Natalie Grams: Die mRNA-basierte Technologie der neuen und meisten Impfstoffe hat wohl viele Menschen verunsichert. Obwohl sie seit vielen Jahren erforscht werden, hat man irgendwie befürchtet, dass genetische Impfstoffe das Genom von uns Menschen nachhaltig negativ beeinflussen. Und egal, wie oft erklärt wurde, dass das unwahrscheinlich ist, hat sich das festgesetzt, wie das eben so oft bei Mythen ist. Das sind dann eigentlich keine Argumente, sondern eher Befürchtungen. Und damit ist das Thema emotional und mit rationalen Argumenten schwer erreichbar.
MIZ: Sehen sie diese Einwände als stichhaltig an?
Natalie Grams: Ich bin immer für eine offene Diskussion und finde es wichtig, dass gerade Laien ihre Befürchtungen und Zweifel offen aussprechen dürfen. Viele Gedanken waren auch durchaus berechtigt. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn Expertinnen und Experten die Sachlage dann verständlich erklären, dass weiterhin an Mythen fest gehalten wird, ja dass sogar Verschwörungsideologien daraus werden.
MIZ: Menschen, die der sogenannten Schulmedizin distanziert gegenüberstehen, verweisen oft auf einzelne Fälle, in denen eine Behandlung richtig schief ging oder ein alternativmedizinischer Ansatz angeblich besser geholfen hat. Aus wissenschaftlicher Perspektive mögen solche Anekdoten ohne Bedeutung sein, aber mit welcher Argumentation lassen sich diese Leute abholen?
Natalie Grams: Dieses Problem beschäftigt mich ja seit Jahren, weil ich selbst diese Erfahrung gemacht habe: Ich war von der vermeintlichen Schulmedizin enttäuscht und fand ‘Rettung’ in der sogenannten Alternativmedizin. Ich denke, mir ist es gelungen, das besser einordnen zu können, weil ich verstanden habe, was Wissenschaft ist und wie man hier systematisch Erfahrungen sammeln kann. Das ist dann einfach mehr wert als eine Einzelerfahrung, nicht für den Einzelnen, aber für generelle Aussagen über die Wirksamkeit einer Methode oder eines Medikaments.
MIZ: Was würden Sie jemandem entgegnen, der die Parole „Wer heilt, hat recht“ ins Feld führt?
Natalie Grams: Wer nachweisen kann, dass er ursächlich für die Heilung verantwortlich ist, hat recht. Wer einfach nur daneben stand, während der Körper sich selbst geheilt hat, kann zwar eine Rechnung stellen, aber die Rechnung geht nicht auf sein Konto.
MIZ: Das real existierende Medizinsystem schleppt ganz offensichtlich seit vielen Jahren schon grundlegende Probleme mit sich herum – Stichworte: Drei-Minuten-Medizin, Profitorientierung, Personalmangel und seit kurzem auch Medikamentenknappheit. Schlägt sich die Kritik an echten Missständen im System in einer Ablehnung der wissenschaftlichen Methoden nieder?
Natalie Grams: Auf jeden Fall. Ich denke, wir können aus der ‘Alternativmedizin’ und dem Verlangen danach mitnehmen, dass viele Menschen sich darin offenbar besser behandelt fühlen. Dass sie sich als Menschen gesehen fühlen und nicht als Nummern oder Fälle. Deswegen mache ich mich auch in meinem Podcast Grams’ Sprechstunde alle zwei Wochen auf die Suche nach ‘echt guter Medizin’. Gar nicht so leicht!
MIZ: Lassen sich denn die Methoden überhaupt vom Rahmen, innerhalb dessen sie angewendet werden, trennen?
Natalie Grams: Das untersuchen medizinische Studien: Ob es das Behandlungssetting ist, dass zum Beispiel einen Placebo-Effekt generiert oder ob wirklich eine spezifische arzneiliche Wirkung vorliegt. Deswegen kann man eben auch als Einzelne/r nicht sagen: ‘Das hat gewirkt!’, denn es könnte auch der allgemeine Behandlungs- und Kontexteffekt oder meine Erwartungshaltung gewesen sein. Man kann nur sagen: ‘Mir hat es geholfen’ – und für eine Aussage darüber hinaus brauchen wir Studien.
MIZ: Die Erfolge der Medizin sind nach meiner Beobachtung sehr unterschiedlich: die Chirurgie hat in den vergangenen Jahrzehnte große Fortschritte gemacht, bei Krankheiten wie beispielsweise Rheuma sieht es anders aus. Ist es da nicht verständlich, wenn auch die wissenschaftliche Methode in die Kritik gerät?
Natalie Grams: Um das gerecht zu beurteilen, braucht man wahrscheinlich ein wenig Demut. Das Problem in der ‘Alternativmedizin’ ist ja, dass sie oft super viel verspricht und nur wenig davon halten kann. Da finde ich die normale Medizin einfach ehrlicher, wenn es natürlich auch furchtbar ist, dass wir noch nicht für alles ein Heilmittel haben. Aber das wird wohl immer so sein und trotzdem wird sich die Medizin weiterentwickeln. Ich wäre aber immer skeptisch, wenn mir jemand verspricht, dass sein Mittel oder seine Methode alles – und auch noch sofort – heilen kann.
MIZ: Was müsste sich ändern, damit die Leistung von Wissenschaft im Bereich der Medizin wieder angemessen eingeschätzt wird?
Natalie Grams: Ich denke, allen in der Medizin wäre geholfen – und damit meine ich Behandelte und auch Behandelnde –, wenn wir weniger auf Effizienz getrimmt wären, sondern das Zwischenmenschliche wieder mehr Raum und Zeit bekäme. Das ist sicherlich schwierig, so lang beispielsweise Krankenhäuser rentabel laufen müssen und auch noch Profit abwerfen sollen. Da kommt die Gesundheit einfach zu kurz. Zum anderen müssen wir wohl noch besser erklären, dass Wissenschaft eine Methode ist, die Wissen schafft, und kein Glaube.
MIZ: Danke für das Gespräch.