Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/23 | Geschrieben von Horst Groschopp

Was ist „säkularer Humanismus“?

Im Zusammenhang mit der Konstituierung des Zentralrates der Konfessionsfreien (ZdK) aus dem Koordinierungsrat säkularer Organisationen (KorsO) im September 2021 verließen einige von dessen Gründungsmitgliedern den gemeinsamen Verbund, darunter der Humanistische Verband Deutschlands (HVD). Zu den Absprachen mit ihm gehört die Vereinbarung einer „strategischen Partnerschaft“. Dies setzt ein gemeinsames langfristiges gesellschaftspolitisches Ziel voraus.

„Humanismus“ ist dabei nicht hinreichend, denn er wird in- und außerhalb dieser Organisationen unterschiedlich verstanden. Zur genaueren Bestimmung werden dann oft Unterscheidungskriterien eingeführt, die nicht direkt zu den humanistischen Grundbegriffen gehören, etwa „Religion“ oder „Demokratie“. Das Problem dabei ist, dass es „Barmherzigkeit“ (Humanität), den Kern des Humanismus, auch in Religionen und Diktaturen gibt.

Um die jeweilige angestrebte Zukunft genauer zu beschreiben – eben weil „Humanismus“ nicht ausreicht –, erhält dieses Wort von Autoren wie Organisationen in der Regel ein Adjektiv oder es wird einem Substantiv ein „humanistisch“ davorgesetzt. Ich habe ab 2008 ein Jahrzehnt lang etwa 250 Eigenschaftswörter und über achtzig Präzisierungen von Hauptwörtern erfasst und 2018 im Alibri Verlag veröffentlicht mit dem Ziel, einem allzu sorglosen Umgang mit Humanismus-Begriffen vorzubeugen, dazu zählt auch der Vorsatz „säkular“.1

Humanismus

Es ist äußerst nützlich, bevor über Humanismus diskutiert wird, zu sagen, was darunter im Folgenden verstanden wird. Es bietet sich hier der erste Satz der Einleitung zum Handbuch Humanismus: Grundbegriffe an: „‘Humanismus’ ist eine kulturelle Bewegung, ein Bildungsprogramm, eine Epoche (Renaissance), eine Tra­dition (‘klassisches Erbe’), eine Welt­anschauung, eine Form von prak­ti­scher Philosophie, eine politische Grund­haltung, welche für die Durch­setzung der Menschenrechte, ein Konzept von Barmherzigkeit, das für humanitäre Praxis eintritt.“2

Das ergibt acht Bedeutungen, die jeweils eine eigene Begriffsgeschichte haben, eigene Forschungsgegenstände sind und spezielle humanistische Organisationen hatten und haben. Bei allen diesen Bezeichnungen ist umstritten, wie sie sich in der Realität zueinander verhalten und dann als Ganzes – als der Humanismus – gesehen werden können. Es versteht sich, dass von jedem Teilgebiet betrachtet sich die Vorstellung vom Humanismus ändert, anderes betont wird.
Wo ließe sich bei den acht Kate­go­rien überhaupt sinnvoll das Adjektiv „säkular“ davorsetzen und was würde das dann jeweils bedeuten. Das soll jetzt nicht vertieft, sondern nur andeutet werden. Wir hätten dann die Begriffe: säkulare Bewegung, säkulare Bildung, säkulare Renaissance, säkulare Tradition (etwa der Antike oder des Neuhumanismus), säkulare Weltanschauung, säkulare Philosophie, säkulare Menschenrechtspolitik und säkulare Barmherzigkeitspraxis. Alles spannende Fragen, die uns aber nicht unbedingt Humanismus erklären, wenn auch einige Seitenlinien.

Säkular

Der Begriff „säkularer Humanismus“ ist neueren Datums, weniger deshalb, weil es bis in die 1970er Jahre im deutschsprachigen Raum und in der hiesigen Freidenkerbewegung noch „weltlich“ hieß, oft von Hegel abgeleitet, der über „Verweltlichung“ schrieb. Die Geschichte dieser Kategorie „säkularer Humanismus“ belegt den halben Abschied humanistischer Organi­sationen von ihrer traditionellen freidenkerischen Vergangenheit, klammert andere Herkünfte aus. Das Adjektiv „säkular“ ermöglichte es, etwa bei der Gründung des HVD 1993, traditionelle Ziele fortzuschreiben und das konsequente Sich-einlassen auf das, was Humanismus meint, einzuschränken. Das hing stark mit einer Praxis zusammen, die man hatte oder eben nicht. So waren die Ostverbände in Berlin, Halle oder Brandenburg ganz anders aufgestellt als die in NRW oder Niedersachsen.3

Der innere Streit eskalierte erstmals an der zuspitzenden Provokation, nach Artikel 140 GG i.V.m. Art 137,7 WRV sei der HVD eine „konfessionelle“, keine säkularistische Organisation. Das fing 1998 in humanismus aktuell an mit entsprechenden Thesen von Werner Schultz und mir.
Das Kernproblem bei der Verwen­dung des Adjektivs „säkular“ ist, dass es aus der christlichen Kirchen­geschichte stammt, vom lateinischen Wort saeculum (Zeit, Zeitalter, Jahrhundert) ebenso herkommt wie von saecularis (weltlich, profan).
Historisch begann die Debatte mit dem Westfälischen Frieden von 1648, aber besonders nach dem Reichs­deputationshauptschluss von 1803. Hintergrund bildete der Vorgang, Kirchengut zu verstaatlichen oder zu privatisieren und die Nonnen wie Mönche zu bezeichnen, die keine mehr waren. Diese Prozesse haben wiederum drei Kernbegriffe hervorgebracht: Säkularität, Säkularisation, Säkularisierung – immer verbunden mit entsprechenden Theorien, bezogen auf verschiedene gesellschaftliche Vorgänge, etwa die Ablösung von religiösen Geschichtsbildern oder Rechtsvorstellungen.
Bei allen Variationen, geblieben ist ein Grundverständnis, das sich auf die Formel reduzieren lässt, den Kirchen Verantwortlichkeiten für gesellschaftliche Vorgänge zu nehmen, inklusive ihnen die Deutungsmacht über geistige Entwicklungen, über Wissen, Bildung, Sinngebungen usw. gänzlich oder teilweise zu entziehen. In der letzten Konsequenz folgte daraus Kirchenkampf oder, wie die alte Freidenkerlosung lautete: Vollständige Trennung von Kirchen und Staat inklusive Trennung von Religion und Gesellschaft. Beide Forderungen sind zwar nicht identisch, wer aber „säkularen Humanismus“ will, begibt sich in diesen Zusammenhang, z.B. bei den „Staatsleistungen“, dem „Reli­gions­unterricht“ usw.
Eventuelle Gleichbehandlung von Reli­gionsgesellschaften und Weltan­schau­ungsgemeinschaften innerhalb dieses Verständnisses ist bei diesem Konzept in der Regel ausgeschlossen. Die Konsequenz der HVD-Konzeption von 1993 dagegen lautet, in den Religionsgesellschaften keine Gegner mehr zu sehen, sondern konkurrierende Akteure auf dem gleichen sozialpolitischen Feld (was Religionskritik nicht ausschließt).

Säkularer Humanismus

Der Begriff „säkularer Humanismus“ besitzt ebenfalls eine mehrfache Bedeutung. Er wird vorwiegend benutzt, um eine humanistische Welt­anschauung und Bewegung ohne religiöse Basis zu bezeichnen. Ende der 1940er Jahre kam in den USA ein weitgehend atheistisch sich darstellender säkularer Humanismus auf, der den dort bis dahin dominierenden ethischen Humanismus erfolgreich bekämpfte unter dem Vorwurf der Religionsnähe. Das traf besonders den „Humanismus der Juden“, der ab Oktober 1892 in Deutschland geholfen hatte, eine moderne Organisation zu schaffen, die ethische Kulturbewegung, die auch eine humanitäre Praxis etablierte, in der Juden, besonders junge weibliche, die erste konfessionsoffene Sozialarbeit anboten, zuerst in Frankfurt am Main und in Berlin.

Dabei ist zu beachten, dass in Reaktion auf die russische Oktober­revolution, die Revolutionen 1918/19 und die sozialpolitischen Kämpfe der Weimarer Republik, den Fortschritten des Faschismus und besonders dann während der Zeit der „Volksfront“, die humanistisch argumentierte, Mitte der 1930er Jahre ein „christlicher Humanismus“ erstarkte, der aber nach 1945 in kirchlichen, besonders katholischen Verruf geriet.
Das war dann auch die Zeit, wo der in den USA inzwischen siegreiche „säkulare Humanismus“, der sich konzeptionell international (etwa in der IHEU) und religionskritsch aufstellte, in den nun anbrechenden Zeiten des Kalten Krieges antikommunistisch gedeutet wurde und sich von antifaschistischen Humanismen des Exils und der unmittelbaren Nachkriegszeit abgrenzte. Er suchte in den frühen 1950ern Verbindungen zum religionskritischen Antikolonialismus, vor allem in Indien.
Als sich deutsche Freidenker ab 1990 auch organisatorisch dem Huma­nismus zuwandten, war die ethische Kulturbewegung in ihren Reihen weit­gehend vergessen. Sie rezipierten deshalb zunächst den „säkularen Humanismus“, der die Menschenrechte für sich beanspruchte und nichtreligiös deutete. Andere Deutungen des eigenen Humanismus tauchten, wie schon erwähnt, erst 1997/98 auf, interessanterweise mit Gründung der Humanistischen Akademie und deren Publikationen. In diesem Kontext begann die „Sichtungskommission“ zu arbeiten.
In den Debatten der deutschen „säku-
laren Szene“ – ein Begriff und Formel­kompromiss der Vor-KorsO-Zeit – wird 
bis heute noch vom „weltlichen Huma­nismus“ gesprochen, in Abgrenzung zum religiösen, besonders christlichen Humanismus, der, wie erwähnt, in den 1930ern bis 1950ern eine gewisse Konjunktur hatte. Doch hat gegenüber dem philosophisch-theologischen Wort „weltlich“ das Adjektiv „säkular“ einen mehr soziologischen und juristischen Beiklang (etwas verweltlichen, aus dem Besitz der Religion, der Kirchen nehmen), ist prozesshafter (historischer) und „amerikanischer“, weshalb das Adjektiv bei Analysen z.B. des modernen Islam, auch gegenwärtig verwendet wird.

Politisches Programm

In den letzten Jahren gibt es berechtigte starke Kritik von Religions­wissenschaftlern an Analysen des Säkularismus. Es wird eine Leerstelle im kulturhistorischen Denken festgestellt, denn Säkularisierungen, gerade in der Moderne, haben immer wieder zugleich Sakralisierungen hervorgebracht, also starke religiöse Gegenbewegungen und theologische Umdeutungen.

Meine Sicht sagt, dass „säkularer Humanismus“ letztlich keine klarstellende inhaltliche Bestimmung von Humanismus darstellt, aber nützlich ist bei der Beschreibung der entsprechenden organisierten Gruppen, etwa des ZdK und der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), für die ein konsequent säkularisierter, kirchenfreier Staat ein strategisches Ziel darstellt, wofür aber nach meinem Dafürhalten das Wort „Humanismus“ gar nicht nötig ist.
Mein Vorschlag wäre, auf das Vorwort „säkular“ wegen der Miss­verständlichkeit und Verwech­selungs­gefahr zu verzichten und immer, wenn das Wort „Humanismus“ eingesetzt wird, in seiner Verwendung klarzustellen, wenigstens gedanklich, was das im jeweiligen konkreten Fall heißt, z.B. wenn gewohnheitsmäßig formuliert wird, der HVD stehe in der Tradition der Aufklärung. Im Groben stimmt das immer, aber welche Traditionen in der Aufklärung sind ihm besonders wichtig, wo zieht er seine Linien, welche Gedenktage feiert er usw.? Wer hat wann die „humanistische Sozialarbeit“ erfunden und wie praktiziert?
Man muss den Begriff der Freidenker schon sehr arg strapazieren, um hier Urheberschaften für das festzustellen, was der HVD oder die Humanistische Vereinigung wollen und praktisch machen. Es handelt sich hier um „Weltanschauungsgemeinschaften“, die laut Grundgesetz auf einer Ebene mit „Religionsgesellschaften“ handeln, also ebenfalls „konfessionell“ (bekenntnishaft) auftreten, Gleichbehandlung mit ihnen wollen, nicht vorhaben, sie und Religion gleich mit „abzuschaffen“. Das aber intendiert „säkular“. Staat und Gesellschaft sollen entgegen dieser Konzeption pluralistisch eingerichtet sein, was nicht neutralistisch heißt. Das wäre im Detail durchzudeklinieren bis zu „Staatsknete“, „Kopftüchern“, Lebenskunde und eigener Hochschule. Dieser Humanismus will jedenfalls nicht „säkularisierender Humanismus“ sein, was allerdings auch nicht den Status quo festschreiben will.
Was hingegen die politische Stra­tegie des „säkularen Humanismus“ betrifft, passt ein Zitat von Julian Nida-Rümelin: „Der so genannte säkulare Humanismus sieht sich in der Tradition dieses Konfliktes [zwischen humanistischen Intellektuellen und klerikalen Autoritäten, HG] und lehnt religiöse Überzeugungen und Praktiken grundsätzlich ab. Damit geht er jedoch über das hinaus, was das humanistische Ethos verlangt: gleicher Respekt vor jedem menschlichen Individum, ein humaner, rücksichtsvoller Umgang untereinander, die Anerkennung unterschiedlicher Kulturen unabhängig von ihrer Herkunft und ihren normativen Prägungen sind auch für religiöse Menschen möglich.“4

Anmerkungen

1 Vgl. Horst Groschopp: Konzeptionen des Humanismus. Alphabetische Sammlung zur Wortverwendung in deutschsprachigen Texten. Aschaffenburg 2018.
2 Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Humanismus: Grund­begriffe. Berlin/Boston 2016, S. 1. – 
Vgl. darin Walter Jaeschke: Säkularisierung, 
S. 359-365.
3 Vgl. Horst Groschopp: Pro Humanismus. Eine zeitgeschichtliche Kulturstudie. Mit einer Dokumentation. Aschaffenburg 2016, S. 66-84, 104-123.
4 Julian Nida-Rümelin: Humanistische Re­flexionen. Berlin 2016, S. 400.