Prisma | Veröffentlicht in MIZ 2/23 | Geschrieben von Gerhard Rampp

Vertuschung und Entschuldigung

Polen ist noch tief gespalten, wenn es um die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle geht

Die Aufarbeitung der Fälle sexualisierter Gewalt durch Priester und Kirchenangestellte gegen Minderjährige geht in Polen langsam voran. Vertuschungsvorwürfe gegen Karol Wojtyla hätten beinahe einen Religionskrieg ausgelöst; ein amtierender Würdenträger hat sich hinegen öffentlich und umfassend für das Versagen der katholischen Kirche entschuldigt.

Der spätere Johannes Paul II. gilt in Polen auch fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod als moralische Autorität. Ein TV-Bericht lieferte nun allerdings Beweise, dass er von Kindesmissbrauch in der Kirche wusste und dagegen nicht eindeutig genug vorgegangen war. Aufgedeckt hat die Sache der private polnische Fernsehsender TVN, der seit Jahren über Kindesmissbrauch in der polnischen Kirche und über die Versuche berichtet, die Skandale unter den Teppich zu kehren.

Der TVN-Bericht bezieht sich auf die 1960er- und 1970er-Jahre, als Wojtyla noch Erzbischof von Krakau war, also vor seiner Wahl zum Papst im Jahre 1978. Die Journalisten dokumentieren drei Fälle von Priestern, die Kinder sexuell missbraucht haben, und danach, zum Teil nach Verbüßung einer Haftstrafe, weiterhin als Seelsorger arbeiten durften. In einem Fall wurde der straffällige Priester, der darüber hinaus als inoffizieller Mitarbeiter für den kommunistischen Geheimdienst arbeitete, nach Österreich versetzt. Im Film kamen auch mehrere Opfer zu Wort, die meisten anonym. Einer der Betroffenen behauptete, dass er Wojtyla bereits 1973 über die sexuellen Übergriffe eines Priesters informiert habe. Der Erzbischof soll ihn aber gebeten haben, nicht weiter über die Sache zu sprechen.
Die in Polen regierende Vereinigte Rechte erkannte in der Papst-kritischen Sendung ihre Chance, von ihren eigenen Problemen abzulenken. Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski steht nämlich wegen steigender Verbraucherpreise und Korruptionsskandalen unter Druck. Die Papst-Kritik kam daher – ein halbes Jahr vor der Parlamentswahl – als neues Thema wie ein Gottesgeschenk.
Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki nannte die Vorwürfe gegen Karol Wojtyla einen „Versuch, einen zivilisatorischen Krieg in Polen auszulösen“. Der Kulturminister Piotr Glinski sagte: „Ein Angriff auf den Papst ist ein Angriff auf Polen, auf die polnische Staatsräson.“ Ins gleiche Horn stieß der amtierende Erzbischof von Krakau, Marek Jedraszewski. Er sprach vom „zweiten Attentat auf Johannes Paul II.“ „Heute, da man Johannes Paul II. nicht mehr physisch töten kann, versucht man, die Erinnerung an ihn zu töten“, betonte der erzkonservative Geistliche.
Die PiS-Fraktion entwarf im Parlament den Text eines Beschlusses zur „Verteidigung des guten Namens des Papstes“. Darin heißt es: „Der Sejm verurteilt entschlossen die schändliche Hetze der Medien, die sich größtenteils auf die Unterlagen des Gewaltapparats der Volksrepublik Polen stützt und die gegen den Heiligen Johannes Paul II., den größten Polen in der Geschichte des Landes gerichtet ist.“ Bei der Debatte im Sejm hielten PiS-Parlamentarier Papst-Porträts hoch.
In Wirklichkeit stellen die Doku­mente des kommunistischen Geheim­dienstes, die im Institut des Nationalen Gedenkens IPN aufbewahrt werden, nur einen Teil der Beweise dar. Gerichtsunterlagen und Kirchen­doku­mente sowie Aussagen der Opfer spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. „Die PiS benutzt zynisch Johannes Paul II. als Instrument zur Erhaltung der Macht. Die Partei rechnet damit, dass sie mit dem Religionskrieg ihre Wählerschaft mobilisiert und sich so die dritte Legislaturperiode sichert“, sagt die Publizistin der Gazeta Wyborcza, Justyna Dobrosz-Oracz.
Der aktuelle Papst beschwichtigt: „Du musst die Sachen in ihrer Zeit einordnen. (…) In damaligen Zeiten wurde alles vertuscht. Erst als der Boston-Skandal ausbrach, begann die Kirche das Problem anzuschauen“, sagte Franziskus im Interview mit der argentinischen Zeitung La Nacion.

Unabhängige Aufarbeitung

Die polnischen Bischöfe erklärten in einer ersten Reaktion, eine gerechte Bewertung der Entscheidungen und der Tätigkeiten von Karol Wojtyla bedürfe „weiterer Archivrecherchen“. Solche Recherchen durch unabhängige Historiker sind jedoch faktisch unmöglich. Erzbischof Jedraszewski, der über den Zugang zu Kirchen-Archiven entscheidet, hat alle Personalakten unter Verschluss gestellt. Gesperrt sind sogar die Dossiers von Personen, die seit 50 Jahren und mehr tot sind.

Ein anderer Kirchenfürst, der polnische Primas und Erzbischof Polak, hat sich dagegen nach einem Bericht mit neuen Recherchen zu Missbrauch für Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchsopfern umfassend entschuldigt. „Es ist beschämend, dass wir jahrzehntelang das Unrecht und ihr Leid nicht wahrgenommen haben. Dafür möchte ich mich noch einmal entschuldigen“, so der 58-Jährige, der bei der Polnischen Bischofskonferenz auch für den Schutz von Kindern und Jugendlichen zuständig ist. Die Kirche sei „oft naiv“ mit den Missbrauchstätern umgegangen.
Auslöser der Erklärung war ein Bericht der Tageszeitung Rzeczpospolita von Mitte Mai, wonach vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1989 in Polen laut einer Schätzung mindestens 1100 Minderjährige von Geistlichen oder Laien in der katholischen Kirche sexuell missbraucht worden sind. Journalisten der Zeitung hatten in staatlichen Archiven laut dem Bericht festgestellt, dass die Behörden der kommunistischen Volksrepublik mindestens 117 katholische Geistliche und zwei Laien des Kindesmissbrauchs beschuldigten. 72 von ihnen seien verurteilt und elf freigesprochen worden. In den übrigen Fällen seien die juristischen Verfahren entweder aus zweifelhaften Gründen eingestellt worden oder der Ausgang sei unklar. Manche Geistliche wendeten dem Blatt zufolge ihre Bestrafung ab, indem sie zusagten, mit dem kommunistischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Es sei „schockierend, wie oft das Wohl der Kinder von den Diensten des totalitären Staates missachtet wurde, die das Leid der Kinder ausnutzten, um die Täter als Kollaborateure der kommunistischen Sicherheitskräfte anzuwerben“, kommentierte der Erzbischof.
In den untersuchten Fällen bestrafte die Kirche die Täter laut der Zeitung häufig nicht angemessen. Nur ein Priester sei aus dem Klerikerstand entlassen und ein Ordensmann aus seinem Orden ausgeschlossen worden. Ein Seminarist habe das Priesterseminar verlassen müssen. Manche Priester hätten später in anderen Pfarreien weitere Verbrechen begangen, so die Rzeczpospolita. Sie geht davon aus, dass etwa 300 katholische Geistliche in der Volksrepublik Kinder missbrauchten.
Polak würdigte die „enorme Arbeit“ der Journalisten. „Diese Studie bestätigt die Notwendigkeit weiterer archivarischer Forschungen in der Kirche“, so der polnische Primas. Er wolle dafür der Bischofskonferenz bei ihrer nächsten Vollversammlung im Juni ein Konzept vorlegen, so der Erzbischof. Polak weiter: „Ich hoffe, dass Untersuchungen unabhängiger Experten der Kirche in Polen zu einer ehrlichen Aufarbeitung der Vergangenheit verhelfen werden, die den historischen und gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt.“ Dies erwarteten die Menschen, denen Leid zugefügt worden sei. Der Schritt sei für die Kirche notwendig, um das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.
Polens katholische Bischöfe hatten im März beschlossen, demnächst ein unabhängiges Expertenteam zu berufen, das sich mit dem Kindesmissbrauch durch Geistliche in der Vergangenheit befassen soll. Polak betonte, die Kirche wende sich aktuell etwa mit einer landesweiten Informationskampagne an die von sexualisierter Gewalt Betroffenen, um ihnen vor allem psychologische und seelische Hilfe zukommen zu lassen: „Wir bemühen uns, sie zu finden.“

Die Zitate sind einem Bericht der Deutschen Welle vom 14.3.2023 sowie einer Meldung von KNA (episkopat.pl) vom 21.52023 entnommen.