Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 4/20 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Bequeme Opferrolle

„Kulturkampf“ hat sich als langlebi­ger Begriff erwiesen. Auch 150 Jahre nach seiner ersten Verwendung kommt er noch zum Einsatz, in den Medien wie auch in Verlautbarungen politischer Akteure.

In jüngster Zeit 
geht es dabei desöfteren um die Be­mühungen der rassistischen Rechten, Hoch- und Alltagskultur wieder an „nationalen“ Interessen auszurichten (vgl. den Schwerpunkt in MIZ 1/20). Viel häufiger aber ist der Gebrauch im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirchen bzw. Anhängern einer Religion: in Deutschland beispielsweise, als in den 1990er Jahren um die Einführung des Schulfaches LER in Brandenburg gestritten wurde. Die religiöse Position wird dabei interessanterweise meist in der Opferrolle dargestellt.

Diese Feststellung mag irritieren 
in einem Land, in dem die Reli­gions
gemeinschaften mit Milliardenbeträgen bezuschusst werden und in dessen Parlament nicht eine Partei sitzt, die das herrschende, auf feudalistischen Gesellschaftsvorstellungen ba
sierende Religionsrecht grundlegend ändern möchte. Ein Blick auf die als „Kulturkampf“ bezeichneten historischen Ereignisse gibt immerhin einige Hinweise, warum derartige Modernisierungskonflikte in diesem Rahmen – der säkulare Staat als Aggressor, die Religiösen als Opfer – diskutiert werden.

Im 19. Jahrhundert fand in Kon­tinentaleuropa, vereinfacht gesprochen, der Übergang vom Feudalismus in die industriell und kapitalistisch geprägte Moderne statt (auch wenn die Entwicklung in den einzelnen Staaten durchaus unterschiedlich verlief). Begleitet wurden die gesellschaftlichen Entwicklung von einem Paradigmenwechsel: Immer breitere Bevölkerungskreise orientierten sich am wissenschaftlichen Weltbild, vertrauten den Ergebnissen menschlicher Untersuchungen mehr als den Interpretationen heiliger Texte durch die heilige Kirche. Vor allem in den wirtschaftlichen, zunehmend aber auch in Teilen der politischen Eliten herrschte diese Wissenschaftsorientierung vor. Damit sank der Einfluss der Kirchen auf diese Eliten und damit auch ihre Macht. Für die katholische Kirche kam ein weiteres Problem hinzu: der Nationalismus. Während die protestantischen Kirchen sich durch ihre enge Bindung an das jeweils herrschende Fürstenhaus einigermaßen in die neue Ordnung einfügen konnten, kollidierte der universelle Machtanspruch der katholischen Kirche mit dem Na­tionalstaatsgedanken.

Papst Pius IX. reagierte mit aggressiver Ablehnung auf den gesellschaftlichen Wandel. Im 1864 veröffentlichten Syllabus errorum verurteilte er die neu entstandenen Ideologien, die der katholischen Lehrmeinung widersprachen: Naturalismus, Rationalismus, Liberalismus, Sozialismus, Kom­mu­nismus brandmarkte er als Irrtümer. Darüber hinaus beanspruchte er aber auch – in totalitärem Größenwahn und unter völliger Fehleinschätzung seiner Machtmittel – die Religionspolitik der Staaten mitzubestimmen, lehnte Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit für Minderheiten ab. Konkret bedeutete dies, dass der Papst forderte, in „katholischen“ Gebieten die Politik religiöser Toleranz zu beenden, den Katholizismus wieder als Staatsreligion einzuführen und die freie Ausübung des protestantischen Kultus zu unterbinden. Und selbstverständlich missfiel ihm die Unterordnung der Kirche unter staatliches Recht.

Es prallten also Mitte des 19. Jahr­hunderts tatsächlich zwei politische Grundhaltungen aufeinander: ein durchaus heterogenes Lager von Kräften, die aus der Industrialisierung die Notwendigkeit gesellschaftlichen Wandels ableiteten, und ein konservatives Lager, das sich an die Restbestände des Feudalismus klammerte und dessen exponiertester Repräsentant der Papst war. Ein zentraler Konfliktpunkt dabei war die Forderung nach Gleichheit als Grundlage der Gesellschaft. Der Übergang zu einer säkularen Ordnung war ein Aspekt dieses Kampfes für Gleichheit.

Auf der Ebene der Individuen ging es dabei um die Möglichkeit, seine Religion frei zu wählen und trotzdem vollwertiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu sein (auch die rechtliche Gleichstellung der Juden, die in den deutschen Staaten in den 1860er Jahren vollzogen wurde, ist in diesem Zusammenhang zu sehen). Aussagen sollten ihre Autorität nicht mehr durch die Position dessen, der sie äußert, sondern durch ihre intersubjektive Nachvollziehbarkeit gewinnen. Bislang hatte die Religion den Rahmen für die öffentliche Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse abgegeben, auch viele Aufklärer sicherten sich im Zweifelsfall noch durch die Berufung auf die Bibel ab. Je stärker sich im 19. Jahrhundert wissenschaftliches Denken etablierte, desto eher konnten auch Theorien, die religiösen Vorstellungen widersprachen, diskutiert werden; je wichtiger das Argument im Gegensatz zur Autorität wurde, desto mehr Menschen konnten mit der Hoffnung Gehör zu finden an Debatten teilnehmen. Was das öffentliche Leben anging, erschien es zunächst notwendig, den direkten Einfluss der Kirchen auf öffentliche Einrichtungen wie etwa die Schule zu reduzieren. Letztlich sollte eine konsequente Trennung von Staat und Kirche zivilgesellschaftliche Strukturen ermöglichen, an denen sich alle möglichen Organisationen halbwegs gleichberechtigt beteiligen konnten.

Insofern gehören die europäischen Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts prinzipiell zur Geschichte des Fortschritts. Doch Ideen entfalten ihre Wirkung immer nur, soweit es die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zulassen. Vieles blieb Programm, in einigen Ländern sogar Traum. Und die Entstehung der Arbeiterbewegung wie auch der Frauenbewegung zeigen, dass die Gleichheitsversprechen nicht für alle und erst recht nicht für alle gesellschaftlichen Bereiche eingelöst wurden.

Das gilt insbesondere für das Deutsche Reich. Der Kulturkampf fand hier nicht unter den Vorzeichen gesellschaftlicher Modernisierung statt, sondern unter den Bedingungen eines autoritären, im Feudalismus verwurzelten Staates, der sich letztlich als reformunfähig erweisen sollte. Die Trennung von Staat und Kirche (wie sie etwa die Sozialdemokratie oder Teile der Linksliberalen forderten) stand nie auf der Tagesordnung. Zugespitzt formuliert ließe sich sagen: Der Kulturkampf in Deutschland wurde nicht zwischen Liberalen und Klerikalen ausgefochten, sondern zwischen einem erzreaktionären Papst und einem erzreaktionären Reichskanzler (der allerdings mit einem feinen Gespür für das politisch Machbare ausgestattet war).

Bismarcks Vorgehen war letztlich geprägt von Befürchtungen, die Katholiken (vor allem die polnischen, die ein Zehntel der Bevölkerung Preußens ausmachten) könnten sich im Zweifelsfall dem Staat gegenüber weniger loyal verhalten als dem Papst – was in seinen Augen die Einheit des in drei Kriegen blutig zusammengefügten Deutschen Reiches gefährdet hätte. Um den Zusammenhalt der Reichsbevölkerung zu gewährleisten, setzte der Reichskanzler wesentlich auf das Konzept der „negativen Integration“, also die Ausgrenzung von Bevölkerungsteilen, die als nicht zuverlässig angesehen wurden: nationale Minderheiten wie Polen und Dänen, die sozialistische Arbeiterbewegung und eben Katholiken.1 Wer nicht zu diesen als Feindbilder gezeichneten Gruppen gehört, konnte (und sollte) sich zugehörig fühlen.
In diesem Kontext muss die Benach­teiligung von Katholiken gesehen werden. Besondere Strafmaß­nahmen trafen in erster Linie die Geistlichen (zahlreiche Bischöfe in Preußen saßen im Gefängnis), ansonsten bewegten sich die Repressionen außerhalb der polnischen Gebiete im Rahmen dessen, was im Deutschen Reich „üblich“ war, und sind auch nicht mit den Maßnahmen des Sozialistengesetzes vergleichbar. Zu diesem Urteil dürfte zumindest kommen, wer sich vor Augen führt, wie Polizei und Justiz damals gegen Protest und Widerstand vorgingen – ob sie nun von Künstlern in Wort und Bild oder von streikenden Arbeitern ausgingen.2

Gleichwohl erfolgten im Rahmen des Kulturkampfes sinnvolle und notwendige Modernisierungsschritte wie 
die Einführung der Zivilehe, die Ab­lösung der kirchlichen Schulauf­sicht 
durch eine staatliche oder die Schaf­fung der Möglichkeit des Kirchen­austritts – Maßnahmen, die kirchlicher­seits als großes Unrecht gesehen wurden, die tatsächlich aber schlicht den sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung trugen und für die Angehörigen kleiner Religionsgemeinschaften und „Dissi­denten“ etwas Gleichheit mit sich brachte. Der Begriff „Kulturkampf“ wird in Deutschland jedoch bis heute vor allem mit Repression und Ausgrenzung assoziiert und damit herausgelöst aus dem europäischen ideengeschichtlichen Kontext gesehen.

Dies hat Folgen für die öffentliche Wahrnehmung von Konflikten zwischen säkularem Staat und Religion. Gerne nehmen die Kirchen die Opferrolle für sich in Anspruch, wenn staatlicherseits Projekte in Angriff genommen werden, die ihre Privilegien auch nur am Rande berühren. Als beispielsweise in Berlin ein Ethikunterricht eingeführt wurde, in dem alle Schulkinder gemeinsam unterrichtet werden, sahen die Kirchen dies als „Vertreibung der Kirchen aus Schulen“3 – obwohl der in Berlin existierende freiwillige, staatlich finanzierte Religionsunterricht davon völlig unberührt blieb.

Ganz anders war da die Situation der „Dissidenten“-Kinder im Deutschen Reich. Wenige Jahre nach dem Ende des Kulturkampfes verfügte der preußische Kultusminister, dass auch Kinder von Eltern, die keiner Kirche angehörten, den Religionsunterricht besuchen müssen.4 Auch daran zeigt sich, dass das Modernisierungspotential des Kulturkampfes begrenzt war, weil Bismarck mit seinen Maßnahmen eben nicht das Projekt einer Säkularisierung unter der Maßgabe der Gleichheit ver
folgte. Und mehr als hundert Jahre nach Beginn des Kulturkampfes konnte ein christdemokratischer Kultus­minister unbeschadet verlautbaren, dass Konfessionslose eigentlich nicht Lehrkräfte an einer staatlichen Schule sein sollten.5

Die weltanschauliche Neutralität des Staates auf der Basis der Gleichheit zu definieren, wäre ein Schritt, solche Diskriminierungen zu verhindern. Aber die Debatte um das Berliner Neutralitätsgesetz zeigt, wie erfolgreich die Kirchen damit waren, im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, dass die Forderung nach Neutralität ihrerseits als Diskriminierung verstanden werden muss. Diesmal ist es die islamische religiöse Rechte, die den Opferstatus für sich reklamiert.

Letztlich haben die Kulturkämpfe in den letzten 250 Jahren nie aufgehört. Auch wenn die Rahmenbedingungen sich verändert haben, die Mehrheit der Menschen in Deutschland in absehbarer Zeit konfessionslos sein wird und der eine oder andere Erfolg zu verzeichnen war: Es stehen sich immer noch zwei politische Kulturen gegenüber, eine stärker egalitär ausgerichtete und eine, die an der Privilegierung bestimmter Gruppen (beispielsweise der Religionsgemeinschaften) festhält.

Der Begriff der „Kultur“ wird in diesen Auseinandersetzungen häufig gezielt eingesetzt und meist in einer verkürzten Auffassung, die Homogenität unterstellt und Vielfalt unter den Tisch kehrt. Darauf verweisen auch die beiden Interviews mit Christoph Antweiler und Cinzia Sciuto. Dass Vielfalt vor allem Individuen und ihren Lebensentwürfen zugute kommen sollte und nur auf der Grundlage bestimmter für alle verbindlichen Mindeststandards an Bürger- und Menschenrechten aufbauen kann, sollte Bestandteil der politischen Kultur sein, für die wir kämpfen.

In diesem Sinne: Auf in die aktuellen Kulturkämpfe!

Anmerkungen

1 Vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. 5.A. Göttingen 1983.
2 Ein beliebig gewähltes Beispiel für den Umgang mit Protest aus der Zeit nach der Sondergesetzgebung findet sich in: Die Augsburger Krawall-Prozesse. München 1900 (Reprint Olching 1979).
3 Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Huber, siehe Ronald Heinemann: Ideologischer Glaubenskrieg in Berlin, in: Der Spiegel, 8.4.2005 (Zugriff am 11.1.2021).
4 Vgl. Horst Groschopp: Weltliche Schule und 
Lebenskunde. Dokumente und Texte zur 
Hundertjahrfeier ihrer praktischen Inno­vation 1920. Aschaffenburg 2020, S. 39-43.
5 So noch 1991 der bayerische Kultusminister Zehetmair (vgl. Handbuch für konfessionslose Lehrer, Eltern und Schüler, Aschaffenburg 1992, S. 100). Ganz ähnlich einige Jahre zuvor auch der baden-württembergische Amtskollege Mayer-Vorfelder.