Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 1/23 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Critical Studies oder Kritikfreudigkeit?

Die skeptische Bewegung definiert gerade neu, was unter die Lupe genommen werden soll – und was besser nicht

Es gehört zum „Markenkern“ der Gesellschaft zur wissenschaft­lichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), dass sie Verfahren kritisiert, die sich „Wissenschaft“ nennen, diesen Anspruch aber nicht erfüllen. Seit der letzten Mitglieder­versammlung Mitte Mai ist unklar, ob das auch weiterhin so sein wird. Denn ein Teil der Mitgliedschaft will das skeptische Denken an die Leine legen, und bei den Vorstandswahlen hat sich diese Fraktion weitgehend durchgesetzt.

In einer Kampfabstimmung, die unter 
äußerst fragwürdigen Begleit­erschei­nungen ablief (siehe Kasten: Einige sind gleich und andere sind gleicher), wurde ein Vorstand gewählt, von dem nicht sicher ist, ob er die Konflikt­bereit­schaft mitbringt, die notwendig ist, um Kritikfreudigkeit und Wissen­schaft­lichkeit gegen Angriffe zu verteidigen. Die Auseinandersetzung hatte sich bereits im Vorfeld der Mit­gliederversammlung abgezeichnet. Im Kern geht es um die Leitung des Wissen­schaftlichen Zentrums, die im kommenden Jahr neu besetzt werden muss, da Martin Mahner, der diese Funktion bislang ausfüllte, im Mai in Rente gehen wird. Für die Ausrichtung der GWUP ist diese Stelle zentral. Der bisherige Vorstand hatte für die Nach­folge den Vorsitzenden des GWUP-Wissenschafts
rates Nikil Mukerji vorgesehen.

An dieser Personalie entzündete sich ein Streit, der einen grundlegen­deren Konflikt offenlegte: das Ver­hältnis der GWUP zu den sog. Critical Studies und dem „woken“ Ak­ti­vis­mus.1 
Im Mittelpunkt stand das von Mukerji maßgeblich mitverantwortete YouTube- 
Format The Boys of Reason2. Die dort anzutreffenden, teils sehr pointierten 
Aussagen erschienen einem Teil der Mit­glieder nicht ausreichend fundiert, und 
Befürchtungen wurden laut, dass das Image der GWUP als Wissen­schafts­vereinigung Schaden nehmen könnte. Ein anderer Teil derjenigen, die Kritik übten, sah hingegen ein anderes Problem: In dem Podcast finden sich auch Beiträge, die sich kritisch mit Critical Studies auseinandersetzen. Und dass die Critical Studies im Rahmen der GWUP zum Gegenstand der Kritik werden, ist – wie aus einigen Redebeiträgen unmissverständlich hervorging – von einer Reihe von Mit­gliedern nicht gewünscht.

Identität statt Emanzipation

„Woke“ ist ein unscharfer Sammel­begriff für politische Konzepte, durch die – anknüpfend an identitäre Vor­stellungen – rechtes, teilweise auch ex­trem rechtes Gedankengut in ursprüng­lich linke Zusammenhänge gelangt ist. Wer sich als „woke“ versteht, geht davon aus, die gesellschaftlichen Unter­drückungsverhältnisse durchschaut zu haben. Die Beschreibung von Erkenntnis als Erweckungserlebnis wirkt befremdlich, zumal sie oft mit einem Selbstbild moralischer Überlegenheit einhergeht. Sie erinnert weniger an das „Heureka“ des Archimedes als an das „Awakening“ der Evangelikalen.

Das zugrundeliegende Weltbild geht von Gruppenidentitäten aus und ist dualistisch ausgerichtet: einer Mehrheit steht eine Minderheit gegenüber, die benachteiligt ist. An diese grundsätzlich richtige Beobachtung schließt sich jedoch kein sozialrevolutionäres Konzept an, das darauf abzielt, die Gesellschaft gemeinsam zu verändern. Dem steht unter anderem die Vorstellung im Wege, dass Menschen unterschiedlicher Identität nicht wirklich miteinander ins Gespräch kommen können, weil ihre Erfahrungshorizonte zu verschieden sind. Dass es Leute geben könnte, die generell in einer herrschaftsfreien Gesellschaft leben möchten (durchaus aus wohlverstandenem Eigeninteresse, denn Mehrheiten können sich ändern) und ihre politischen Aktivitäten darauf ausrichten, ist dem identitären Denken fremd.
Zwar ist häufig von „Strukturen“ die Rede, die identitären Lösungsansätze zielen hingegen oft auf die Individuen. Die Mitglieder der „Mehrheiten“ müssen es sich für ihre „Verfehlungen“ gefallen lassen, als „rassistisch“, „transfeindlich“, menschenverachtend usw. bezeichnet zu werden. Da das identitäre Spektrum in weiten Teilen von sprachmagischem Denken durchdrungen ist (der Verwendung bzw. Vermeidung einzelner Wörter wird eine hohe Bedeutung bei der Veränderung der Welt beigemessen), finden diese Verfehlungen häufig auf der sprachlichen Ebene statt. So kann dich bereits die Feststellung, dass es zwei biologische Geschlechter plus Intersexualität gebe, oder die Auffassung, dass es notwendig sei, sich für die Rechte von Frauen und Mädchen besonders einzusetzen, als „transfeindlich“ ausweisen.
In Trainings können Menschen dann lernen, für ihre „Privilegien“, die ihnen qua Geburt als Männer, Weiße, Heterosexuelle usw. zufallen, Abbitte zu leisten. Wer in all dem das Konzept „Kirche“ zu erkennen meint, dürfte richtig liegen: Die Identitären leisten, was über Jahrhunderte die institutionalisierten Religionen übernommen hatten: die autoritäre Konditionierung von Menschen zur Zustimmung ohne das Recht auf Widerspruch. Und wie die Kirchen ändern sie: nichts (was den „Vorteil“ hat, dass sie auch morgen ihre Vorwürfe wiederholen und ihre Trainings anbieten können).

Critical Studies

Fundiert wird der identitäre Aktivismus durch die Critical Studies, die in den Sozialwissenschaften mittlerweile eine bedeutende Rolle spielen. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass kritische Gesellschaftsanalyse zunehmend hinter in apodiktischem Tonfall vorgetragenden moralischen Verurteilungen verschwunden ist, die Kritik der Zu­stände der öffentlichen Beschämung von Menschen gewichen ist.

Selbstverständlich muss jede Studie für sich geprüft werden,3 aber ein Blick auf theoretische Vorstellungen, die von wichtigen Vertreter:innen der Critical Studies geäußert werden, wirft die Frage nach der wissenschaftlichen Seriosität auf.
Die amerikanische Soziologin Robin DiAngelo4 beispielsweise geht von der These aus, dass Weiße in der us-amerikanischen Gesellschaft Nicht-Weißen („People of Colour“) gegenüber privilegiert sind, indem sie (ob sie wollen oder nicht) in vielen Situationen von ihrem Weiß-Sein profitieren und bestimmte Diskriminierungserfahrungen nicht machen müssen. Diese Auffassung ist im Kern sicherlich richtig (das Prob­lem wird in der Linken aber auch schon seit 40 Jahren reflektiert). Auch dass People of Colour ihre Diskrimi­nie­rungs­erfahrungen nur schwer mit Menschen teilen können, die Ent­spre­chendes nie erlebt haben, ist noch nach­vollziehbar (wobei bereits hier kritisch angemerkt werden kann, dass Empathie­fähigkeit eine allgemeinmenschliche Eigenschaft ist, über die sich diese „Erfahrungslücke“ zumindest ansatzweise schließen lassen müsste). Fragwürdig wird das Konzept, wenn Menschen, die potentiell von einer strukturell rassistischen Gesellschaft profitieren, als Bestandteil dieser Struktur gesehen werden – unabhängig davon, wie sie sich konkret verhalten (DiAngelo geht davon aus, dass „weiße progressive Menschen ... im Alltag den größten Schaden für Menschen of Color“ anrichten5). Und als Selbstimmunisierungsstrategie muss bewertet werden, wie DiAngelo Kritik, der sie in ihren Schulungen begegnet, 
abwertet („das Verwechseln von Mei­nungsverschiedenheiten mit Un­ver­ständnis“).6 Die Frage, ob Rassismus in einer bestimmten Situation vorliegt, gilt als beantwortet; es geht nur noch darum, das „Wie“ zu analysieren.7 Maßstab für die Definition von Rassismus ist für DiAngelo die Erfahrung der Unter­drückten – wobei sie, wenn zwei sich widersprechende Urteile über dieselbe Situation vorliegen, der Position, die keinen Rassismus wahrgenommen hat (z.B. weil alle, unabhängig von der Hautfarbe, gleich behandelt wurden), die Relevanz abspricht.8 Die subjektive Empfindung bleibt für sie wichtiger als die Suche nach einer intersubjektiv nachvollziehbaren Definition.
Was schon aus aktivistischer Sicht fragwürdig erscheint (weil ein solches Vorgehen überheblich daherkommt und eher zu Reaktanz als zu Reflexion führen dürfte), bereitet unter einer wis-
senschaftlichen Perspektive ernste Probleme. Das „woke“ Verständnis von 
Kritik unterscheidet sich nicht nur grund­legend von dem, was in der Linken bislang als Kritik galt: Die möglichst genau Beschreibung der herrschenden Zustände (mit der Zielsetzung, diese auf Grundlage der Erkenntnisse verändern zu können) wird ersetzt durch moralisch und emotional aufgeladene Bewertungen. Es kollidiert auch mit wichtigen Voraussetzungen von Wissenschaft: Jede These muss grundsätzlich kritisierbar sein; jede Aussage muss, unabhängig davon, wer sie getätigt hat, auf ihren Gehalt hin überprüft werden; Konsens wird durch intersubjektive Nachvollziehbarkeit hergestellt und nicht durch autoritäre Vorgaben.
Im Idealmodell ist Wissenschaft eine universalistische Angelegenheit: Jeder Mensch kann erlernen, die wissenschaftlichen Methoden anzuwenden. Wissenschaftliche Ergebnisse werden intersubjektiv zugänglich gemacht, was dazu beiträgt, dass alle Menschen in die Lage versetzt werden, aus eigener Anschauung Urteile zu fällen und die Behauptungen von „Autoritäten“ dadurch infrage zu stellen. Hierin liegt auch das gesellschafts­verändernde Potential von Wissen­schaft. Die Critical Studies verfolgen 
demgegenüber eher ein elitäres Kon­zept, befördern Anpassungsdruck, wo 
Eman­zipation notwendig wäre.9 Letzt-
­lich sind sie Ausdruck einer zur Ideo­logie erstarrten Postmoderne, die kaum noch kritische Impulse bereithält.

Kritik an der Leine

Im Bereich der Medizin untersucht die GWUP seit Jahrzehnten Ver­fahren, die schlecht belegte Behaup­tun­gen aufstellen, und verweist auf etwa bestehende ökonomische Inte­ressen. Für naturwissenschaftliche Fachbereiche gilt dies ebenso und auch Managementpraktiken werden auf den Konferenzen oder im Skeptiker kritisch unter die Lupe genommen. Es spräche insofern wohl nichts dagegen, einen skeptischen Blick auch auf Sozialwissenschaften zu werfen. Trotzdem gibt es innerhalb der GWUP eine starke Fraktion, die vermeiden möchte, dass die Critical Studies Gegenstand der Kritik werden. Florian Aigner, prominentes GWUP-Mitglied, meinte auf der Mitgliederversammlung, jede Fachdisziplin habe ihre inneren Begriffe und Traditionen, ohne deren Verständnis eine Kritik nicht sinnvoll sei. Wenn „Traditionen“ einzelner Disziplinen oder Praktiken auf diese Weise aus dem kritischen Diskurs genommen werden (denn wer legt denn fest, wann ein „Verstehen“ dieser Traditionen als ausreichend angesehen werden kann?), stellt sich die Frage, warum die GWUP dann Homöopathie und Anthroposophie kritisiert, die sich genau mit dieser Argumentation von jeher gegen Kritik abzuschotten versuchen. Wer entscheidet dann, was einer kritischen Betrachtung unterzogen wird und was nicht?

Einen Vorgeschmack, wie fragwürdige sozialwissenschaftliche Konzepte in Zukunft möglicherweise behandelt werden, bot der Vortrag der alten und neuen Stellvertretenden Vorsitzenden Claudia Preis zum Thema „Kulturelle Aneignung“: kein kritisches Wort zum, diesem Konzept zugrundeliegenden, identitären Kulturverständnis, und erst ganz am Ende der Diskussion zum Vortrag ein knapper Hinweis zu den damit verbundenen ökonomischen In­teressen.

Kritik bei Gegenwind

Dass unsere Gesellschaft von Rassismus und Sexismus geprägt ist, sollte außer Frage stehen. Dass auch diejenigen, die sich gegen diese Strukturen einsetzen, selbst ab und an aus Vorurteilen und Schubladendenken heraus handeln, sollte ebenfalls niemand in Abrede stellen. Aber wenn jemand – egal ob politische Aktivist:innen oder wissenschaftliche Einrichtungen – für die eigene Analysemethode einen Mono­pol­anspruch auf Antirassismus, Anti­sexismus usw. erhebt, ist Hellhörigkeit angesagt. Und wenn Kritik an inhaltlichen Aussagen, vorgeschlagenen Stra­tegien oder eingesetzten Methoden mit der Unterstellung abgewehrt wird, dass damit zugleich Minderheiten ihre Rechte abgesprochen würden, ist das weder wissenschaftliches noch emanzipatorisches, sondern autoritäres Ver
halten. Darin zeigt sich nicht gesellschaftliche Aufbruchstimmung, sondern das Streben nach nicht hinterfragbaren „Wahrheiten“ in Zeiten allgemeiner Verunsicherung.

Eine Folge sind dann die bekannten Situa­tionen, in denen etwa privilegierte Aka­demiker:innen migrantische Sä­ku­larist:innen als „rassistisch“ beschimpfen, weil diese aufgrund der Erfahrung in ihren islamisch geprägten Herkunfts­ländern den Einfluss von Religion auf die Politik generell kritisch sehen und sich nicht aus dem Elfenbeinturm heraus belehren lassen möchten. Oder wenn das Eintreten für eine Gleich­behandlung aller, beispielsweise durch ein Neutralitätsgesetz, als „Rassismus“ diskreditiert wird.
Die Aufgabe der säkularen Szene bleibt, derlei Gedankengut klar zu benennen: als Pseudokritik, die einen Wettbewerb der Identitäten inszeniert, der perfekt zu einer Gesellschaft passt, in der Menschen prinzipiell in ein Konkurrenzverhältnis gestellt sind. Die Aufgabe der GWUP bliebe, sich kritisch anzusehen, was in diesem Bereich beansprucht, Wissenschaft zu sein, und zu prüfen, ob es sich nicht um Pseudowissenschaft handelt.
Dass dann mit Gegenwind zu rechnen ist, hat sich bereits im Vorfeld der diesjährigen Mitgliederversammlung gezeigt. Dass der Tonfall äußerst aggressiv sein wird, steht zu erwarten, denn ad personam-„Argumentation“ und Markierung als „rassistisch“ usw. gehören zur Standardrhetorik der Iden­titären. Aber auch Feigheit ist ein Aspekt von Wissenschaftsfeindlichkeit.

Anmerkungen

1 Der Begriff „woke“ wurde auf der Mit­glieder­versammlung und im Vorfeld verwendet, weshalb ich ihn hier anführe. In MIZ-Artikeln wurde dieses politische Spektrum bisher meist als „identitär“ bezeichnet. Um mich klar zu positionieren: Ich halte den identitären Ansatz für mit wesentlichen linken Zielsetzungen nicht vereinbar. Die Abkehr vom Universalismus und die Moralisierung komplexer Herr­schafts- und Ausbeutungsverhältnisse erscheinen mir eher als Reaktion einer ver­un­sicherten Mittelschicht auf zunehmend unübersichtlicher werdende Lebens­verhältnisse und als gefährlicher Türöffner für autoritäre Konzepte.
2 https://www.youtube.com/@theboysofreason.
3 Ein Beispiel aus der MIZ: Gunnar Schedel: Strohmann-Argumente. Wie sich eine Kritikerin an einem holzschnittartigen Säkularismusbild abarbeitet, in: MIZ 3/21, S. 9-13.
4 Robin DiAngelo: Wir müssen über Rassismus sprechen: Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein. Hamburg 2020. Wer sich einen schnellen Überblick über DiAngelos Ansichten verschaffen will, kann dieses Interview in der Zeit lesen: https://www.zeit.de/campus/2018-08/rassismus-dekonstruktion-weisssein-privileg-robin-diangelo.
5 DiAngelo, Wir müssen über Rassismus sprechen, S. 30. Diese Einschätzung hat sie später, beispielsweise auch in dem genannten Zeit-Interview, relativiert.
6 Ebenda, S. 110; vgl. auch S. 178 f. oder S. 180.
7 Ebenda, S. 17.
8 Ebenda, S. 152 f.
9 Es gibt Stimmen, die DiAngelo unterstellen, vor allem deshalb die soziale Frage zu bagatellisieren, weil ihre Trainings häufig von großen Firmen gebucht werden. Und die, so die Annahme, hätten kein Interesse daran, dass ihre Mitarbeiter mit sozialrevolutionärem Gedankengut in Berührung kommen. Gegen die Einteilung von Menschen in kollektive Identitäten ist aus dieser Sicht weniger einzuwenden, da sich diese in einer ganz auf Konkurrenz basierenden Gesellschaft gut gegeneinander ausspielen lassen.