Tatsächlich haben sich die weltanschaulichen Mehrheitsverhältnisse in Bayern stärker verschoben als in jedem anderen Bundesland. 1950 waren noch 97 %der Bevölkerung katholisch oder evangelisch und selbst bei der Volkszählung 1987 gehörten nur 8,9 % nicht den Volkskirchen an. Inzwischen trifft dies auf rund 40 Prozent der Einwohner zu, da seit längerem die Kirchenaustrittsquote in Bayern deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt. Überdies haben CSU, SPD und Freie Wähler diesen Wandel noch gar nicht registriert und verharren in ihrer Kirchentreue, selbst die bayerischen Grünen scheinen die gesellschaftlichen Veränderungen noch nicht richtig zur Kenntnis genommen zu haben. Insofern nutzt die FDP die Gunst der Stunde und erschließt sich eine ständig wachsende Zielgruppe, die die anderen vernachlässigen. Für Konfessionsfreie ist der Vorstoß der Liberalen strategisch günstig, denn so erhöht sich der Druck auf die anderen Parteien, die sich künftig nicht mehr erlauben können, so viele kirchenferne Wähler(innen) zu ignorieren.
Inhaltlich knüpft das Positionspapier an das Kirchenpapier an, das die Bundespartei 1974 verabschiedet hat, beschränkt sich aber weitgehend auf die für Bayern relevanten Themen. Es werden neun Thesen aufgestellt, zu denen jeweils der aktuelle Sachstand beschrieben wird und anschließend Änderungsforderungen aufgestellt werden. Die meisten dieser Thesen laufen auf eine Entflechtung der Staat-Kirche-Verbindungen hinaus, so etwa „Das [Bayern-]Konkordat kann so nicht bleiben“, „Die [bayerischen] Staatskirchenleistungen müssen abgelöst werden“. Gefordert wird mehr weltanschauliche Neutralität im Arbeitsrecht (soweit die Kirchen öffentliche Aufgaben mit öffentlichem Geld wahrnehmen), im Bayerischen Rundfunk und in staatlichen Einrichtungen, wo religiöse Symbole nichts zu suchen haben.
Leider zeigt sich aber bei einigen Thesen, dass die Verfasser ihre eigenen Ansätze nicht zu Ende gedacht haben, sondern sich von aktuellen, tagespolitischen Diskussionen leiten ließen. So greift die These „Gemeinsamer Dialogunterricht statt getrenntem Religionsunterricht“ einen rein innerkirchlichen Diskussionsgegenstand auf. Ob die beiden Kirchen sich auf einen gemeinsamen Religionsunterricht einigen wollen, ist deren Sache und nicht Sache des Staates. Konsequent wäre stattdessen die Forderung „Ethikunterricht für alle, Religionsunterricht als Wahlfach für alle, die ihn zusätzlich wünschen“. Der Ethikunterricht vermittelt nämlich die Werte, die für alle verbindlich sind. Das sind jene, welche sich aus den Grundrechtsartikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes und aus den Allgemeinen Menschenrechten ableiten lassen. Religiös begründete Werte hingegen betreffen allenfalls die Anhänger der jeweiligen Religion, wobei diese – in Ausübung ihrer Religionsfreiheit – auch noch selbst bestimmen dürfen, welche dieser religiösen Werte sie für sich persönlich gelten lassen wollen. Überdies beinhaltet der Ethikunterricht auch (informierende) Religionskunde, sodass dort der „gemeinsame Dialogunterricht“ bereits verwirklicht werden kann.
Eine weitere Schwäche des Papiers ist die Verquickung grundsätzlicher Reformansätze mit aktuellen Kirchenproblemen wie der fehlenden innerkirchlichen Demokratie und den Vertuschungen bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Selbstverständlich sind Thesen wie „Strafverfolgung ist Staatsaufgabe“ oder „Opfer schützen und bei der Traumabewältigung unterstützen“ absolut berechtigt. Aber sie greifen zu kurz. Notwendig wäre der viel umfassendere Grundsatz „Staatliches Recht hat Vorrang vor Kirchenrecht“. Dieser existierte übrigens bereits in Art. 135 der Weimarer Reichsverfassung, doch wurde dieser Artikel im Gegensatz zu den nachfolgenden nicht in Art. 140 des Grundgesetzes übernommen – auf Druck der Kirchen und der CDU/CSU.
Andererseits fehlen mindestens zwei Themen. Zur Religionsfreiheit gehört unstrittig das Recht, zeitnah aus der Kirche auszutreten. Fragwürdig ist schon die Pflicht, dazu persönlich vor der zuständigen Stelle zu erscheinen. Bei fast allen anderen amtlichen Vorgängen ist dies nicht erforderlich. Warum also nicht den elektronischen Kirchenaustritt erlauben? In Norwegen kann man dies seit 2016, ohne dass es je zu Problemen gekommen wäre.
Noch grundsätzlicher ist aber die Frage, warum der Staat die Religionsfreiheit des religionsunmündigen Kindes nicht besser schützt. Offenbar ist auch den Autoren dieses Positionspapiers nicht bewusst, dass Religionsfreiheit ein Individualgrundrecht ist und nicht ein Recht von Organisationen. Warum geht den Staat die Taufe überhaupt etwas an? Warum verknüpft er diese mit einer Kirchensteuerpflicht ab dem Zeitpunkt der Taufe? Warum dürfen die Eltern stellvertretend über die Mitgliedschaft des Kindes in einer Religionsgemeinschaft entscheiden, obwohl sie nicht stellvertretend für das Kind eine Wählerstimme abgeben oder es bei einer Partei anmelden dürfen? (Wohlgemerkt: Ein Erziehungsrecht haben die Eltern selbstverständlich, nicht aber das Recht über das Ergebnis dieser Erziehung zu entscheiden.) Jedenfalls braucht es auch die These „Für die Mitgliedschaft in einer Kirche bedarf es neben deren Zustimmung auch der schriftlichen Einwilligung der betroffenen religionsmündigen Person“.
Trotzdem: Der Ansatz ist gut und eigentlich längst überfällig. Und das „Positionspapier“ hat ja die Eigenschaft, dass es Anstöße bringt und ausbaufähig ist.