Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/12 | Geschrieben von Christoph Lammers

Die Würde des Kindes…

… ist antastbar. Dies ist der Eindruck, der bestehen bleibt, schaut man sich die bisweilen heftig geführte Debatte um die Beschneidung von Jungen an. Mit dem nun vorliegenden Gesetz wird die Unversehrtheit des Körpers eines jeden Kindes hinter die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und hinter das Recht der Eltern auf die religiöse Erziehung des Kindes (Art. 6 GG) zurückgestellt. Die Würde des Kindes (Art. 1 GG) wird damit zu einem Verfassungsrecht dritten Ranges degradiert.

Oder ist alles vielleicht doch gar nicht 
so schlimm? Immerhin spricht der eine oder die andere von „Fingernägelschneiden“1 oder von einem „winzigen Hautstück“2. Sollte der Religionsfrieden der bürgerlichen Gesellschaft von so einem bisschen Vorhaut etwa gestört worden sein? Ja, und zwar in erheblichem Maße. Geradezu panisch aufgeschreckt reagieren Konservative und Liberale gleichermaßen. In den Kommentarspalten zahlloser Tages- und Wochenzeitungen überschlagen sich die Befürchtungen und Wehklagen. So schrieb Heribert Prantl in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung: „Das Kölner Urteil zur Beschneidung hat [...] ohne Not Unfrieden in die Gesellschaft getragen und gläubige Juden und Muslime zu Rechtsbrechern erklärt. Es hat, akkurat, aber gefühllos, aus Beschneidern Täter, aus Beschnittenen Opfer gemacht. Das war Jurisdiktion zu Zwecken der Sensation.“3 Ich erlaube mir an dieser Stelle dieser Sichtweise zu widersprechen, die entweder aus religiöser Verblendung oder kulturrelativistischer Haltung heraus das höchste Gut eines jeden einzelnen von uns auf dem Altar archaischer Riten opfern möchten. Der Körper ist nicht verhandelbar!

Die Diskussion um die Beschneidung von Jungen offenbart aber nicht nur altbekannte Ressentiments gegenüber Kritiker_innen religiöser Überlieferungen.4 Sie steht zudem sinnbildlich für die Unfähigkeit der Religionsgemeinschaften, ihre religiösen Traditionen zu hinterfragen und sich zeitgleich ins demokratische Gemeinwesen einzufügen. Die MIZ möchte sich mit diesem Heft in die Debatte einschalten, aber einen erweiterten Blick auf den Kern des Problems wagen. Allein bei der Diskussion um die Beschneidung von Jungen stehen zu bleiben, würde den Opfern, Jungen wie Mädchen, aber auch intersexuellen Menschen, nicht gerecht werden. Meines Erachtens lässt sich dieser Kern anhand dreier Prunkte näher bestimmen, die ich an dieser Stelle kurz umreißen möchte.
Der erste Punkt ist grundsätzlicher Natur. Warum sollten Säkulare sich für die Rechte anderer, in diesem Fall der Kinder, einsetzen? Die Antwort lautet, das Kind ist nicht ein Objekt des Elternwohls oder der religiösen Tradition, es muss als Subjekt wahrgenommen und als solches respektiert werden – von Anfang an. Diesem Ansinnen kommen jedoch weder der Gesetzgeber noch die Vertreter_innen der Religionen nach. Letztere, weil sie religiöse Traditionen, und seien sie noch so inhuman, grundsätzlich nicht in Frage stellen wollen. Der Gesetzgeber jedoch wäre dazu verpflichtet, zum Wohle des Kindes zu handeln, das heißt, das Selbstbestimmungsrecht des Kindes in den Vordergrund zu stellen. Dadurch, dass der Gesetzentwurf zweideutig bleibt, versagt der Staat auf ganzer Linie. Volker Zastrow brachte dies in einem Beitrag für die FAZ auf den Punkt: „Je kleiner und wehrloser das Kind, je weniger artikulationsfähig es ist, desto großzügiger erlaubt der Bundestag, seine Grundrechte außer Kraft zu setzen.“5 Bei der Beschneidung geht es nicht darum, dass der Beschnittene sein persönliches Grundrecht ausüben will, sondern darum, dass der Gesetzgeber den Religionen resp. den Eltern eine Handlung an einem Dritten durchführen lässt. Schlimm genug, dass die Selbstbestimmung des Kindes derart in Frage gestellt wird. Dass der Gesetzgeber, nach Meinung von Expert_innen,6 ein unzureichendes Gesetz formuliert, nur um den Religionen gerecht zu werden, ist erschreckend.

Die zweite Punkt baut darauf unmittelbar auf: Wie weit darf die religiöse Selbstbestimmung in einer demokratisch verfassten Gesellschaft gehen? Das heißt, darf es sein, dass der Gesetzgeber den Glaubensgemeinschaften ermöglicht in die Grundrechte jedes einzelnen einzugreifen? Diese Frage geht selbstverständlich über das Kindeswohl hinaus, denn es berührt auch andere Aspekte des Zusammenlebens. Nicht zuletzt die derzeitige Kampagne Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz (GerDiA), bei der sich säkulare Verbände für die Selbstbestimmung von Mitarbeiter_innen in kirchlichen Einrichtungen stark machen und damit auf bis heute andauernde Diskriminierung von Anders- und Nichtgläubigen aufmerksam machen.

Im Fall der Beschneidung zeigen sich die Kirchen solidarisch mit den Vertretern der beiden anderen Religionsgemeinschaften und lassen keine Gelegenheit aus, um auf das Recht der Religionsfreiheit und die Freiheit zur religiösen Erziehung der Kinder hinzuweisen. Mag es an der berechtigten Befürchtung liegen, dass immer öfter kritische Fragen an das Staat-Kirchen-Verhältnis gestellt werden und die Kirchenfürsten um ihre Sicherheiten fürchten müssen. Jedoch gibt es einige unter den Verteidigern des religiösen Opferkultes, die sich der Lächerlichkeit preisgeben, wie in dem Fall des Dekans der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, Martin Jäggle: „Objektiv ist die Beschneidung wirklich etwas Marginales, was körperliche Unversehrtheit betrifft – beispielsweise im Vergleich mit Impfrisiken“ und „kein schädigender Vorgang“.7 Von Seiten der Expert_innen gibt es im Gegensatz dazu gravierende Einwände gegen die Beschneidung, „weil der Säugling – das wissen wir – erhebliche Schmerzen empfindet und das Minimum wäre eine Leitungsanästhesie. Aber unsere Schmerzspezialisten in Deutschland sagen, eine Vollnarkose bei Säuglingen wäre unverzichtbar.“8
Der dritte Punkt ist in seiner Bedeutung vielleicht derjenige, bei dem am differenziertesten argumentiert werden muss: Wie weit darf Aufklärung in ihren Mitteln gehen? Wann ist Kritik an der Beschneidung bereits ein Ausdruck von Antiislamismus und Antisemitismus? Wie weit dürfen überhaupt beide Seiten ihre Positionen ins Extreme formulieren?
Für die Vizepräsidentin des jüdischen Weltkongresses, Charlotte Knobloch, ist der Fall klar. „Ich frage mich, ob die unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psy­chologie oder Politik, die ungehemmt über ‘Kinderquälerei’ und ‘Traumata’ schwadronieren, sich überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie damit nebenbei die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen. Eine Situation, wie wir sie seit 1945 hierzulande nicht erlebt haben.“9 Andere formulieren ähnlich drastisch und erklärten das Urteil als „eine der schwersten Attacken auf jüdisches Leben in Europa in der Post-Holocaust-Welt“.10 Dass es auch differenzierter geht, zeigt der jüdische Historiker Michael Wolffsohn, der sich in einem Beitrag für die Zeitung Die Welt von Knoblochs Sicht distanziert. „Ein unbeschnittener Jude ist Jude, sofern er Sohn einer jüdischen Mutter ist.“11 Aber Wolffsohn steht weitestgehend allein, denn allein die Tatsache, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel Deutschland zur „Komiker-Nation“ erklärt, sollte Beschneidung in Deutschland nicht mehr möglich sein, zeigt, dass eine Differenzierung notwendig ist. Auch ist keinem, vor allem nicht den Jungen, geholfen, wenn ein Szenario heraufbeschworen wird, in welchem das Verbot der Beschneidung mit Auschwitz verglichen wird.

Fakt ist: Der Antisemitismus ist ein
gesellschaftliches Phänomen der Moderne. Dass einzelne die Beschnei­dungsdebatte nutzen, um ihrem Anti­semitismus Raum zu geben, darf nicht den Jurist_innen, Ärzt_innen und Kin­derrechtler_innen vorgeworfen werden, die den Auftrag haben, ihre Expertise zu geben. Alle gesellschaftlichen Kräfte
versagen bei der Bekämpfung des Antisemitismus. Auch die Kirchen mit ihrer Kriminalgeschichte. Die Politik hat auf die Frage von Charlotte Knobloch reagiert, sehr unterschiedlich versteht sich. Der Bundestagspräsident Norbert Lammert betonte die besondere Rolle der Jüd_innen und Muslime für die deutsche Gesellschaft, verwies aber auch darauf, dass „in ihr [der deutschen Gesellschaft] wir alle auf dem Boden des Grundgesetzes, seiner Werte und Grundrechte, gefordert [sind], die gemeinsame Basis für unser Zusammenleben zu wahren und fortzuentwickeln“.12

Auch von Seiten der Muslime wurde harsche Kritik geäußert. Der türkische Europaminister Egemen Bagis betonte: „Das Beschneidungsurteil des Landgerichts Köln lässt Zweifel daran aufkommen, wie ernst Deutschland das Recht auf Religionsausübung nimmt.“ Und weiter schreibt er, es „kommen Zweifel an der Aufrichtigkeit der Religionsfreiheit in der gelebten Praxis auf“.13 Der Religionssoziologe Detlef Pollack zweifelt nicht an dem Vorhandensein von Vorurteilen gegenüber Jüd_innen und Muslimen, in Bezug auf deren Kritik erklärt er aber, dass es „beim Zentralrat der Juden und bei den organisierten Muslimen eine gewisse Neigung [gibt], einen Empörungsdiskurs zu führen. Die in der Gesellschaft durchaus vorhandene Abneigung gegen sie wird eher dramatisiert, damit sie einen guten Grund zum Protest haben.“14 Alle Seiten täten gut daran, deeskalierend zu wirken, damit ein rationaler Diskurs möglich ist.

Eine grundsätzliche Schieflage des Diskurses ergibt aus der Tatsache, dass allein der Blick auf die Jungen gerichtet ist. Beschneidung von Mädchen kommt kaum vor, und wenn, dienen die wenigen Beispiele der Instrumentalisierung. Welche Ausmaße diese Form der Verstümmelung bereits angenommen hat, zeigt eine Antwort der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 auf eine Anfrage der FDP zum Thema „von Frauen und Mädchen vor der Verstümmelung weiblicher Genitalien“. Darin weisen NGOs darauf hin, dass die Zahl der beschnittenen und von Beschneidung bedrohten Frauen in Deutschland bei etwa 30.000 liegt. Die MIZ geht einen Schritt weiter: Juana Remus, Juristin, beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit der Verletzung von Rechten intersexueller Menschen. Ein Aspekt, der in der aktuellen Debatte komplett vernachlässigt wird. Alles, was nicht der Norm der Gesellschaft entspricht, ist nicht relevant. Es wird Zeit, dass sich diese Sichtweise grundlegend ändert. Die MIZ leistet einen ersten Beitrag. In diesem Sinne, Geschichte wird gemacht!

Anmerkungen

1 Vgl. Rötzer, Florian: „Wie Fingernägel schneiden“, in: Telepolis. http://www.heise.de/tp/blogs/6/152484 [Zugriff vom 12.10.2012].
2 Knobloch, Charlotte: Wollt ihr uns Juden noch?, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.9.2012, S. 2. http://www.sueddeutsche.de/politik/beschneidungen-in-deutschland-wollt-ihr-uns-juden-noch-1.1459038 [Zugriff vom 12.10.2012].
3 Prantl, Heribert: Die Beschneidung des Strafrechts, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.7.2012, S. 4.
4 Vgl. stellvertretend dafür Müller-Neuhof, Jost: Chronik einer beispiellosen Debatte, in: Der Tagesspiegel vom 20.8.2012. http://www.tagesspiegel.de/politik/religioese-beschneidung-chronik-einer-beispiellosen-debatte/7018904.html [Zugriff vom 12.10.2012].
5 Zastrow, Volker: Gender, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gesetzentwurf-zur-beschneidung-gender-11916235.html [Zugriff: 12.10.2012].
6 Vgl. u.a. Beisel, Karoline Meta: „Handwerklich schlecht gemacht“, in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3.10.2012, S. 5; „Ein kläglicher Gesetzentwurf“. Interview mit Reinhard Merkel, Strafrechtler, Rechtsphilosoph und Mitglied des deutschen Ethikrates auf ZEIT ONLINE. http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-10/beschneidung-ethikrat-reinhard-merkel [Zugriff vom 12.10.2012]; Gesetzentwurf zur Beschneidung: Schnellschuss auf Kosten der Kinderrechte verstößt gegen Grundgesetz und Völkerrecht. Pressemitteilung Die Linke vom 10.10.2012. http://www.pressrelations.de/new/standard/result_main.cfm?pfach=1&n_firmanr_=109427&sektor=pm&detail=1&r=510370&sid=&aktion=jour_pm&quelle=0 [Zugriff vom 12.10.2012].
7 Beschneidungsdebatte zeigt „Unfähigkeit im Umgang mit Religion“. http://www.erzdioezese-wien.at/content/news/articles/2012/08/03/a27981/ [Zugriff vom 12.10.2012].
8 „Gesetzentwurf ist in sich widersprüchlich“. Interview mit dem Präsidenten des Kinderärzteverbandes Wolfram Hartmann im Deutschlandfunk vom 11.10.2012. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1889680/ [Zugriff vom 12.10.2012].
9 Knobloch, Charlotte: Wollt ihr uns Juden noch?
10 „Einer der schwersten Angriffe auf jüdisches Leben nach dem Holocaust“. Augsburger Allgemeine. http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Einer-der-schwersten-Angriffe-auf-juedisches-Leben-nach-dem-Holocaust-id21005046.html [Zugriff vom 12.10.2012].
11 Wolffsohn, Michael: Die Vorhaut des Herzens, in: Die Welt vom 29.8.2012. http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article108847257/Die-Vorhaut-des-Herzens.html [Zugriff vom 12.10.2012].
12 Lammert, Norbert: Ihr seid wir, in: Süd­deutsche Zeitung vom 15./16.9.2012, S. 2.
13 Bagis, Egemen: Keine Kompromisse bei der Religionsfreiheit, in: Süddeutsche.de vom 28.8.2012. http://www.sueddeutsche.de/politik/debatte-um-beschneidung-keine-kompromisse-bei-der-religionsfreiheit-1.1451767 [Zugriff vom 12.10.2012]. Die SZ bezeichnet Bagis als „Reformer und entschiedenen Befürworter eines EU-Beitritts.“ Zumindest ersteres ist zu bezweifeln.
14 „Antireligiöse Vorbehalte befeuern Debatte“. Detlef Pollack im Interview mit tagesschau.de. http://www.tagesschau.de/inland/beschneidung152.html [Zugriff vom 12.10.2012].